Gleich vorweg ein Lob: Die Qualität dieses Albums, Yamim Noraim, ist großartig, sowohl von der Aufnahmetechnik her, der Stückauswahl als auch von den Interpretationen. Die drei Musiker, das sind neben Kantor Isidoro Abramowicz die Cellistin Katarzyna Polonek und der Pianist Michael Cohen-Weissert, sind perfekt aufeinander eingestimmt, hören einander zu und lassen viele unterschiedliche Klangfarben entstehen.
Auch ist die Reihenfolge der Stücke gelungen. Im Eröffnungs- und im Abschlusswerk sind alle drei Musiker zu hören, dazwischen wechseln sie sich in verschiedenen Konstellationen ab. Aufgenommen wurden die Werke in der Synagoge Pestalozzistraße.
Nach dem Album über Arno Nadel, das im September 2021 erschien, regte Isidoro Abramowicz, Kantor der Berliner Synagoge Pestalozzistraße und Leiter der Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam, nun dieses an. Für das Nadel-Album holte der Kantor unbekannte und vergessene Stücke wieder hervor. In diesem neuen, gerade erschienenen Album hat er sich in Zusammenarbeit mit Katarzyna Polonek traditioneller Musik der jüdischen Liturgie und einigen Highlights der Literatur gewidmet, darunter Werken von Ernest Bloch, Louis Lewandowski, Max Bruch sowie Maurice Ravel.
Dazwischen erklingt noch ein Stück der bislang weniger bekannten polnischen Nachwuchskomponistin Ewa Fabiańska-Jelińska. Die gemeinsamen Themen sind die Zeit und die Bedeutung der Hohen Feiertage des Judentums, von Rosch Haschana bis Jom Kippur. Oft werden sie als Tage der Umkehr bezeichnet. Sie können sich auch auf die gesamte 40-tägige Bußperiode bis Jom Kippur beziehen.
Eröffnet wird das Album mit Awinu Malkenu in der Version von Max Janowski (1912–1991), der in Berlin aufwuchs und vor den Nazis in die USA floh. Intoniert wird hier das Gebet, das zur Hymne der Hohen Feiertage wurde und in dem der Ewige als Vater und König um Gnade gebeten wird. Dabei haben die Stücke unterschiedliche Charaktere und Besetzungen: Beispielsweise beim »Kol Nidrei«, dem Gebet, das am Vorabend von Jom Kippur vorgetragen wird. Einmal erklingt es in der Fassung von Lewandowski, einmal in der von Bruch.
Lewandowski interpretiert Kantor Isidoro Abramowicz zusammen mit einer Klavierbegleitung, Bruch hat sein Kol Nidrei fürs Cello mit Begleitung geschrieben. Die Idee, jüdische Gebetsgesänge in instrumentale Formen zu kleiden und dadurch in »Gebete ohne Worte« zu verwandeln, war schon für Bruch, Enkel eines evangelischen Superintendenten in Köln, attraktiv.
Auf seiner Suche nach pittoresken Titeln und unverbrauchten Quellen für seine Musik stieß der Romantiker 1880 auf die Gebetsgesänge der jüdischen Gemeinden im Rheinland. So entstand Kol Nidrei, ein Adagio »nach hebräischen Melodien«. Auch Ernst Bloch griff diese Idee auf, das Ergebnis lässt sich bei »Prayer« hören, das der Suite »Aus jüdischem Leben« von 1925 angehört. In Prayer spielt das Cello die tief bewegende Melodie eines jüdischen Gebetsgesangs.
Mit seinen übermäßigen Sekunden ahmt es den Gesang jüdischer Kantoren sogar bis in die Vierteltöne nach. Polonek zeigt bei diesen beiden und dem Solostück »Menojre« von Ewa Fabiańska-Jelińska ihr Können auf dem Cello. Vom fahlen Ton bis zum vollen Klang nutzt sie alle Farben der Musik – und ihres Instruments. Einfühlsam und präzise begleitet Cohen-Weissert.
Auch das Kaddisch gibt es einmal traditionell mit Solo-Gesang, bei dem Isidoro Abramowicz sein stimmliches Volumen und seine Gestaltungsvielfalt zeigt. Darauf folgt das Kaddisch instrumental von Ravel, aus seinen »Deux mélodies hébraïques«. Mit der Psalmvertonung »Al Taschlichenu« (Schick uns nicht weg) und dem Ausgangsstück »Pʼtach Lanu Shaʼar« (Öffne uns das Tor) schließt das Album. Bei der letzten Vertonung zeigen alle drei Musiker, wie gut sie harmonieren. Auch wenn es bis zu den Hohen Feiertagen noch etwas hin ist, kann man sich das ruhige, besinnliche Album schon jetzt gut anhören.