Not

Verschämte Armut

Ödnis im Plattenbau: Viele ältere Menschen können sich keine anderen Wohnungen leisten, für die soziale Integration sind die jüdischen Gemeinden zuständig. Foto: dpa

In der Urlaubszeit ist es vielleicht noch schwerer als sonst, wenn das Geld knapp ist. Wenn Nachbarn und Freunde um einen herum die Ferien genießen, ist es bitter, noch nicht mal die Enkel ins Eiscafé einladen zu können – und beschämend, wenn Sohn oder Tochter einem das Geld dafür zustecken. Doch für sehr viele ältere jüdische Menschen sind nicht mal kleine Extras drin. »Wenn die Waschmaschine kaputtgeht, ist das der Horror«, weiß Dalia Wissgott-Moneta, Leiterin der Sozialberatung bei der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main.

Ursachen Die finanziellen Nöte im Alter haben verschiedene Ursachen. Da gibt es die alteingesessenen Juden, die es versäumt haben, in die Rentenkasse einzuzahlen. Es gibt die immer kleiner werdende Gruppe der hochbetagten Holocaust-Überlebenden, die finanziell nie auf die Beine gekommen sind, wie Wissgott-Moneta berichtet. »Sie haben keine Entschädigung beantragt oder sie nicht erhalten und entmutigt aufgegeben.«

Und schließlich gibt es die große Gruppe der sogenannten Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie bekommen in Deutschland keine oder nur eine Minirente. Viele von ihnen haben in der neuen Heimat keine Arbeit gefunden. Sie galten als zu alt, Abschlüsse wurden nicht anerkannt.

Wer doch noch einen Job bekam, wurde in der Regel unter seiner Qualifikation beschäftigt und schlecht bezahlt. »Die Rente, die die Leute dafür bekommen, ist lächerlich gering«, ärgert sich Wissgott-Moneta. Die allermeisten zugewanderten Senioren erhalten deshalb staatliche Grundsicherung – sozusagen Hartz IV für Alte. Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle an der Saale, verdeutlicht das Problem anhand von Zahlen: »239 Mitglieder unserer Gemeinde sind älter als 65 Jahre. Davon erhalten meiner Kenntnis nach nur sieben eine Rente.«

Während Spätaussiedler in Deutschland Altersruhegeld bekommen, wird bei den jüdischen Zuwanderern die Arbeitszeit nicht angerechnet. Dafür werden ihnen Renten und Entschädigungszahlungen aus der Heimat von der Sozialhilfe abgezogen. Ansparen dürfen sie wenig, hinzuverdienen nichts. Ein Alleinstehender mit Grundsicherung hat im Monat circa 360 Euro zum Leben: für Strom, Wasser, Telefon, Essen, Kleidung, Medikamentenzuzahlung. Die Miete übernimmt das Sozialamt.

In der Öffentlichkeit wird das Problem jedoch ausgeblendet, meint Sergey Lagodinsky. Der Mittdreißiger, selbst Zuwanderer, spricht von einer »Massenarmut alter jüdischer Menschen«. Das Klischee vom wohlhabenden Juden halte sich trotzdem hartnäckig in den Köpfen. »Dieses Bild zu revidieren, würde Anstrengung kosten, man müsste sich mit den Menschen auseinandersetzen, und das ist unbequem«, sagt Lagodinsky und ergänzt: »Viele Deutsche haben keinen Einblick in das Leben der jüdischen Zuwanderer.«

Mythos Dalia Wissgott-Moneta teilt diese Erfahrung. »Ich finde es immer nett, wenn wir in der Öffentlichkeit als reich bezeichnet werden«, sagt sie bitter. Besonders schlimm findet die Frankfurterin, dass sogar manche Mitarbeiter der Sozialämter es nicht begreifen, dass ein Mensch hilfsbedürftig sein kann, obwohl er sich gut kleidet und kultiviert auftritt.

Doch vielleicht, so sinniert die Sozialberaterin, sei das ein Grund, warum die Armut der Betroffenen nicht wahrgenommen wird: Sie zeigen sie nicht. »Diese Menschen strahlen eine unglaubliche Würde aus, sie legen Wert darauf, nicht arm auszusehen.«

Auch die jüdischen Gemeinden selbst würden das Problem Armut nie nach außen kehren, meint Wissgott-Moneta. Das hält Sergey Lagodinsky für falsch: »Die Gemeinden, die Beiräte – alle, die politisch Gehör finden – sollten auf das Thema hinweisen.« Denn so sehr sich die Gemeinden auch bemühen und bei Anträgen helfen, im Notfall auch mal finanziell zuschießen, »letztlich stimmen einfach die Rahmenbedingungen nicht«, sagt Sergey Lagodinsky.

Soziales Problem »Armut im Alter ist weder ein Zuwanderer- noch ein jüdisches Phänomen, sondern ein generelles soziales Problem der Bundesrepublik«, betont Günter Jek, der bei der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf die Sozialabteilung leitet. Seine Kollegin Anat Bleiberg aus Berlin sieht das genauso: »Es ist generell schwer, in Deutschland alt und arm zu sein.« Tatsächlich belegt die Statistik, dass der Bedarf an Grundsicherung im Alter steigt. Mehr als 400.000 über 65-Jährige sind auf Unterstützung angewiesen. Doch bei jüdischen Migranten ist die Abhängigkeit von Sozialhilfe nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Für die meisten ist das aber kein Grund zu jammern. »Die Menschen wissen, dass sie hier besser und sicherer leben können als im eigenen Land und sind dankbar dafür«, erklärt Anat Bleiberg. Gegen die soziale Isolation bieten die Gemeinden kostenlose oder günstige Freizeitangebote an; viele Senioren haben auch ihre Familien in Deutschland.

»Es ist kein tolles Leben, aber man hat sich arrangiert«, stellt Günter Jek fest. Die meisten Älteren sind nach Deutschland gekommen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten und investieren einen erheblichen Teil ihres knappen Geldes in deren Ausbildung.

Einkaufsstrategie Dass sie in der ehemaligen Sowjetunion gelernt haben, mit wenig auszukommen, nutzt ihnen in Deutschland. »Die meisten kaufen sehr geschickt ein, gehen zum Beispiel kurz vor Schluss auf den Markt, wenn die Waren verbilligt angeboten werden«, berichtet Wissgott-Moneta. Wer sich allerdings koscher ernähren will, hat ein Problem, wenn es finanziell nur für Restposten und Aldi reicht. »Koschere Lebensmittel gibt es nicht überall und vor allem nicht billig«, weiß Elena Tanaeva aus Dresden.

Die Gemeinde Halle gibt freitags und samstags koscheres Essen in der Synagoge aus. Ein großes Problem für viele alte Menschen sind die steigenden Gesundheitskosten. Bei Brillen, Zahnersatz, Hörhilfen und Medikamenten muss zugezahlt werden. Manche beziehen ihre Medizin sogar noch für viel Geld aus Russland, weil sie den hiesigen Präparaten nicht trauen.

Finanziell können die jüdischen Gemeinden kaum helfen. »Wir stehen selbst mit dem Rücken zur Wand«, erklärt Tanaeva. Durch geringe Mitgliedsbeiträge für Sozialhilfeempfänger – in Dresden sind es zwei Euro im Monat – soll aber jedem das aktive Gemeindeleben offenstehen.

Dass sich das Problem in absehbarer Zeit entschärft, glauben die Sozialberater nicht. Sie gehen im Gegenteil davon aus, dass das soziale Klima rauer wird. Einen Hoffnungsschimmer gibt es indes: Ein Beschluss des Bundesrates fordert die Bundesregierung auf, jüdische Holocaust-Überlebende aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als »Verfolgte des NS-Regimes« anzuerkennen.

Sie sollen einen eigenen Rentenanspruch erhalten und damit nicht länger auf Sozialhilfe angewiesen sein. Günter Jek von der Sozialberatung der Düsseldorfer Gemeinde hofft, dass das Parlament zustimmt: »Dann würden zumindest für Schoa-Opfer die Leistungen aufgestockt. Und das wäre doch mal eine schöne Sache.«

Berlin

Hommage an Broadway-Komponisten

Michael Alexander Willens lässt die Musik seiner Großväter während der »Internationalen Tage Jüdischer Musik und Kultur« erklingen

von Christine Schmitt  21.11.2024

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024