Diese Begegnung hatte Folgen: Als Kantor Isidoro Abramowicz für seine Doktorarbeit in Archiven über Berliner Kantoren recherchierte, stieß er auf Arno Nadel. Seine Neugier war sofort geweckt. Das Ergebnis der mehrjährigen Forschung konnten die Beter der Synagoge Pestalozzistraße zu Rosch Haschana in ihren Händen halten, denn nach dem Gottesdienst bekam jeder die frisch aufgenommene CD Schire Simroh mit Kompositionen von Arno Nadel (1878–1943) geschenkt.
Isidoro Abramowicz, der auch Leiter der Kantorenausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam ist, hat sich an diesem sonnigen Herbstnachmittag Zeit genommen, um den Komponisten im Innenhof der Synagoge vorzustellen.
orgelmusik Orgelmusik erschallt aus dem Gotteshaus. Jakub Stefek, Organist dieses Projekts, übt gerade zufällig. Doch wer war Arno Nadel? »Er ist komplett unbekannt, dabei war er ein fantastischer Künstler, Illustrator, Philosoph, Sammler von Synagogenkompositionen, Organist, Lehrer und Komponist«, sagt Abramowicz.
Anders ausgedrückt: »Er war einfach unglaublich.« Im Booklet zu der CD ergänzt der Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov: »Auf jedem dieser Gebiete war Nadel außerdem geradezu unwahrscheinlich produktiv, so produktiv, dass man sich mit Ehrfurcht fragen muss, wie ein Mensch im Laufe seines Lebens derart viele geistige Werke zu schaffen vermochte.«
Schon seine Vielseitigkeit hätte diesen außergewöhnlichen Menschen vor dem Vergessen bewahren sollen. Der Großteil von Nadels Kompositionen ist verschollen. Doch die Musiker haben sich auf die Suche gemacht. Sie reisten dazu auch in die USA – unter anderem durchforsteten sie die Schreiber Jewish Music Library in Philadelphia, wo Nadels Nachlass archiviert ist – und nach Jerusalem, wo sie in der National Library of Israel einiges an Dokumenten fanden.
kompositionen Feierlich beginnt die CD mit einem Orgelvorspiel für die Hohen Feiertage. Es folgen fünf Kompositionen für Chasan, Chor und Orgel für den Freitagabendgottesdienst, die aus dem Sammelband Schire Simroh. Synagogale Kompositionen zeitgenössischer Autoren stammen, der wiederum das Ergebnis des Wettbewerbs des Allgemeinen Deutschen Kantoren-Verbands 1926 war. Darin enthalten ist auch das »W’schomru«.
Diese Komposition gebe einen Eindruck von Nadels »expressivem Stil, der die östliche Freiheit des Ausdrucks mit dem westlichen Instrumentarium, einen weitgehend traditionellen jüdischen Melodieaufbau mit europäischer Polyphonie und harmonischer Kühnheit verbindet«, so Nemtsov.
Ebenso wurde das Stück »J’hi Scholom« für Chasan, Chor und Orgel aufgenommen, das Nadel zur Einweihung des Friedenstempels in Berlin komponiert hatte, sowie Solo-Orgelwerke für die drei Trauerwochen, an denen beide Tempel in Jerusalem zerstört wurden.
LEWANDOWSKI 1887 kam Arno Nadel in Wilna auf die Welt. Sein Talent wurde früh entdeckt, und mit zwölf Jahren zog er nach Königsberg, wo er »Singerl« im Chor des berühmten Synagogenkantors Eduard Birnbaum wurde. Er war noch keine 18 Jahre alt, als er nach Berlin kam, um in der Jüdischen Lehrerbildungsanstalt zu lernen und auch den Musiker Louis Lewandowski kennenlernte.
Anschließend wirkte er als Religionslehrer und gab Privatunterricht in Musik, Kunst und Literatur. »Ich würde sagen, dass er von der östlichen Musik, die zu Hause immer präsent war, von Kantor Birnbaum und von Lewandowski geprägt wurde«, meint Abramowicz.
Das Kompendium der Synagogalmusik gilt als verschollen.
1916 trat Nadel eine Stelle als Chordirigent bei der Synagoge am Kottbusser Ufer an, die er bis zur Pogromnacht innehatte. Ebenso amtierte er in den Gotteshäusern Münchener Straße und Pestalozzistraße. Eine seiner größten Leidenschaften war das Sammeln von jüdischen Volksliedern und Synagogalmusik. Als Kind hatte er bereits jüdische Volkslieder arrangiert, nun glänzte er auch mit Kompositionen – und schrieb Auftragswerke für die Einheitsgemeinde, die sowohl von den Mitgliedern der orthodoxen Strömung als auch von den Reformgemeinden genutzt wurden.
1922 erhielt er von der Jüdischen Gemeinde Berlin den Auftrag, ein Kompendium der Synagogalmusik zusammenzutragen, das Kompendium »Halleluja!«, in dem er sowohl Reformkompositionen als auch Melodien ostjüdischer Kultur zusammenstellen sollte. 16 Jahre arbeitete er daran. Es umfasste mehr als 1000 Seiten, aber es gilt als verschollen.
ZEITSCHRIFT Glücklicherweise publizierte Arno Nadel in der Monatsschrift »Der Jude« (1916 bis 1928) und in der jüdischen Kulturzeitschrift »Ost und West« (1901 bis 1923). Er feilte an Kritiken, schrieb musikwissenschaftliche Aufsätze, über die Geschichte der Liturgie sowie über das Judentum und Musik. Und er brachte Beispiele, indem er den Notentext mitveröffentlichte. Sie helfen nun, seine Werke zu erfassen.
»Es muss eine fantastische Zeit gewesen sein«, meint Isidoro Abramowicz. Denn es gab viele Synagogen in Berlin und etliche Kantoren. Damals erschien auch die Zeitschrift »Der jüdische Kantor« sechsmal im Jahr, als Organ des deutschen Kantorenverbandes.
Nadel war verheiratet und hatte zwei Töchter. Sogar eine Beschreibung seiner Wohnung hat der Gemeindekantor gefunden: Es gab keine freie Stelle mehr an den Wänden der Zimmer, überall standen Bücher und seine Sammlungen – es soll eine museale Atmosphäre geherrscht haben.
Doch dann kamen die Nazis an die Macht. Arno Nadel wurde 1938 für ein paar Wochen nach Sachsenhausen deportiert. Eine Ausreise in die USA scheiterte. 1941 wurden er und seine Frau in ein sogenanntes Judenhaus umgesiedelt, ein Jahr später musste er Zwangsarbeit leisten. 1943 wurde das Ehepaar nach Auschwitz deportiert und ermordet. Es gibt keine Angehörigen mehr.
SUKKA Die CD wurde an drei Tagen in der Synagoge unter Corona-Bedingungen aufgenommen, weshalb nur acht Sänger des Chores Pestalozzistraße dabei sein konnten. Jakub Stefek und Isidoro Abramowicz haben sich vor ein paar Jahren in der Synagoge kennengelernt, als der Organist dort zu Besuch war. »Ich wünsche mir, dass wir noch weitere Projekte auf die Beine stellen können«, sagen beide. Finanziert wurde die CD von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und der Synagoge Pestalozzistraße. Und die Universität Potsdam unterstützte das Projekt beim Layout.
Kinder toben nun über den Innenhof, die Orgel ist verstummt, und Jakub Stefek schlendert vorbei. »Nadel ist ein toller Komponist«, sagt er noch rasch, während er an den Holzbalken der Laubhütte, der Sukka, vorbeigeht, die direkt nach Jom Kippur aufgebaut werden soll.
Er freut sich darauf, dass das Ausgangsstück der CD den letzten Teil des Jom-Kippur-Gottesdienstes eröffnet: »Neilah«, das Gebet, das einst vor dem Schließen der Tempeltore in Jerusalem am Ende des Tages gesprochen wurde. Ganz leise klingt diese bemerkenswerte Aufnahme aus. Es sind wunderbare 60 Minuten, da alle Musiker detailgenau, präzise und geschmackvoll gearbeitet haben und schöne Klangfarben entstehen. Auch die Reihenfolge ist schlüssig angelegt. So ist es ein Genuss, den Werken zu lauschen. Die CD ist im Handel erhältlich wie auch online abrufbar.