Albert Rabaev hat schon vor Tausenden Fernsehzuschauern gesungen, doch vor den etwa 200 Gästen dieses Abends holt er nervös Luft, bevor er seine Stimme erhebt: »Bebehoymu ischmu istit asctar oymu …« Der junge Mann schließt die Augen. Er singt auf Juhuri, der einzigartigen Sprache der Juhur, der Bergjuden.
Eine persische Sprache, gewürzt mit aserbaidschanischen, russischen und vor allem hebräischen Einflüssen. Die Sprache, die die Juden aus Dagestan, aus Aserbaidschan und Tschetschenien bis heute verbindet, auch wenn sie inzwischen in Israel, in den USA oder eben in Deutschland leben. Für Albert Rabaev, den jungen Sänger aus Berlin, ist es die Sprache seiner Großeltern, von der er selbst nur einzelne Floskeln kennt. Und doch singt der 30-Jährige, als verstehe er jedes einzelne Wort: »…rach imure tovush sochteo!«
Die Gemeinde der Bergjuden zählt heute knapp 4000 Mitglieder.
Nach dem Auftritt zieht Albert Rabaev sein Handy aus der Tasche. »Schau mal, meine Oma hat mir geholfen, das Lied zu übersetzen«, sagt er. Ebenjene dort abgedruckten Zeile sei besonders poetisch, findet Albert und liest: »Eure Väter sind wie Sterne … sie leuchten euch den Weg.« Es könnte das Motto dieses Abends sein, an dem das zehnjährige Bestehen der Gemeinde der kaukasischen Juden in Deutschland (GKJD) gefeiert wird.
Migrationsströme der Moderne
Wie überall auf der Welt kämpfen auch die Bergjuden in Deutschland darum, ihre über viele Jahrhunderte in kaukasischen Bergdörfern erhaltene Tradition über die Migrationsströme der Moderne zu retten und an ihre Kinder weiterzugeben. Auch deshalb hatte sich die Gemeinschaft 2014 gegründet.
Heute zählt die Gemeinde bundesweit knapp 4000 Mitglieder. Die meisten von ihnen leben in Berlin, Frankfurt und Nürnberg. Zentralratspräsident Josef Schuster, dessen Grußwort auf der Gala verlesen wird, nennt die GKJD ein Netzwerk der Begegnung, der Identitätsstiftung, des Erinnerns an die weitreichende Historie und des Erhalts der Sprache. »Durch die enge Verbundenheit innerhalb Ihrer kleinen Gemeinschaft werden individuelle Geschichten und Traditionen besser bewahrt und weitergegeben«, betont er.
Die kaukasischen Juden in Deutschland, diese Minderheit in der Minderheit, müssen besonders darauf achten, ihre Traditionen zu erhalten, findet auch Avi Shefatja. Der Vorsitzende plant Juhuri-Sprachkurse und bemüht sich, in Frankfurt und Berlin sefardische Gebete zu ermöglichen, nach deren Ritus sich die Bergjuden richten. Auch der Vorsitzende der Berliner Gemeinde, Gideon Joffe, verspricht an diesem Abend: Wenn alles gut läuft, könne die sefardische Synagoge in der Passauer Straße in diesem Jahr wieder öffnen.
Nach den Missbrauchsvorwürfen gegen einen ehemaligen Rabbiner der Gemeinde haben nicht-aschkenasische Juden in Berlin derzeit kein aktives Gotteshaus mehr. Umso bewegter sind an diesem Abend die Gäste, als Rabbiner Avraham Daus, der ehemalige Kantor der sefardischen Gemeinde, spontan zwei bekannte Melodien anstimmt. »Wir sind ein Volk, das sich seine Religiosität im Herzen bewahrt hat«, sagt Avi Shefatja.
Wer sind eigentlich die Bergjuden?
Doch wer sind eigentlich die Bergjuden? Eben keine Sefarden oder Misrachim, erklärt Shefatja. Sie gehören, neben den bucharischen Juden, zu den eigenständigen jüdischen Völkern Zentralasiens.
German Djanatliev ist Historiker und stellvertretender Vorsitzender der GKJD. »Die Geschichte des jüdischen Volkes ist seltsam und unverständlich, aber die Geschichte der kaukasischen Juden ist noch unverständlicher«, scherzt er und versucht sich dann doch an einer Erklärung: »Etwa 200 Jahre nach unserer Zeitrechnung begann das persische Reich, die Gebirgspässe des Kaukasus zu überwachen, auf denen Armeen vom Iran aus nach Europa gelangen konnten.«
Die Juhur pflegten ihre jüdischen Traditionen über Jahrhunderte.
Zu dieser Zeit wurden Juden aus Persien in der Region sesshaft, »eben die Vorfahren der heutigen Bergjuden«, sagt Djanatliev. Diesen Namen bekam das Volk allerdings erst, als im 19. Jahrhundert russische Soldaten die Region eroberten und auf Juden trafen, die sich stark von den aschkenasischen Juden aus ihrer Heimat unterschieden. Sie benannten sie nach den Bergen, in denen sie, tief geprägt von den kaukasischen Bergkulturen, lebten. Dennoch behielten die Juhur, wie sie sich selbst nannten, über Jahrhunderte ihre jüdischen Traditionen bei.
Auch wenn die meisten Bergjuden infolge der Kriege und Unsicherheiten nach dem Zerfall der Sowjetunion auswanderten, gibt es heute noch einige Orte im Kaukasus mit jüdischem Leben. Heraus sticht die rote Siedlung in Aserbaidschan, die von faszinierten Touristen gerne als »das letzte Schtetl der Welt« bezeichnet wird – obgleich das jiddische Schtetl natürlich nicht ganz passt: Hier leben noch 3000 Juhuri sprechende Juden, es gibt eine Jeschiwa und seit 2020 das erste Museum der Bergjuden weltweit.
Jahrhundertelange Koexistenz mit der muslimischen Stadt
Es ist auch – das betont an diesem Abend der aserbaidschanische Botschafter Nasimi Aghayev – einer der wenigen jüdischen Orte der Welt, die kaum Antisemitismus erlebt haben. Die rote Siedlung steht für eine jahrhundertelange Koexistenz mit der muslimischen Stadt auf der anderen Seite des Flusses. Aserbaidschan, sagt der Botschafter, sei »ein sicherer Zufluchtsort für Juden«.
Viele aserbaidschanische Juden teilen diese Auffassung. So auch Fridan Damer, die im grünen Kleid durch den Abend moderiert: »Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, weil ich unbedingt musste, sondern weil ich neugierig war auf eine Kultur, die ich in Baku studiert hatte«, erzählt die 37-jährige Politikwissenschaftlerin aus Köln. Die Familie ihres Vaters stammt aus ebenjener roten Siedlung, die ihrer Mutter war ursprünglich muslimisch. In Aserbaidschan keine Seltenheit. »Wir sind eines der wenigen muslimisch geprägten Länder, das sehr gute Beziehungen zu Israel unterhält«, betont Damer.
»Wir sind ein aktiver und wichtiger Bestandteil der jüdischen Diaspora.«
Avi Shefatja
Gleichzeitig emigrierten in den 90er-Jahren Tausende aserbaidschanische Juden nach Israel, wo sie aufgrund des hohen Gefährdungsgrads in ihrer Heimat im Alija-Prozess priorisiert wurden. Es gibt also zwei Varianten der Geschichte.
In der Gegenwart aber gilt Aserbaidschan für Juden als relativ sicher, ganz im Gegenteil zu den russischen Republiken Dagestan und Tschetschenien, aus denen viele Gäste an diesem Abend stammen. Seit dem 7. Oktober fanden dort Pogrom-ähnliche Jagden auf die letzten verbleibenden Juden statt. »Niemand von uns hat solche Szenen vorher im Nordkaukasus gesehen«, sagt Avi Shefatja. Es sei daher besonders wichtig, »dass alle kaukasische Juden zusammenhalten«.
Vielen anderen Juden unbekannt
Das, so zeigt dieser Abend, funktioniert in Deutschland besonders gut. »Wir sind heute ein aktiver und wichtiger Bestandteil der jüdischen Diaspora in Deutschland«, sagt Avi Shefatja stolz. Bis dahin war es nicht immer ein leichter Weg. Die Bergjuden sind vielen anderen Juden unbekannt, manche erlebten in den jüdischen Gemeinden auch Ausgrenzung, bekennt Zentralratspräsident Schuster.
Doch die Gründer der ersten kaukasischen Gemeinde in Deutschland haben sich nicht entmutigen lassen, so Schuster: »Es braucht immer Visionäre, die es wagen, in schwierigen Zeiten von einer leuchtenden Zukunft zu träumen.« Dieses Licht aber, so erinnert das Lied vom Anfang des Abends, stammt von den Sternen der Vorväter.