Paul Selker lehnt sich auf die Brüstung hoch über dem Biggesee. Der Himmel über dem Südsauerland ist an diesem sommerlichen Vormittag tiefblau gefärbt und von keinem Wölkchen getrübt. Die Sonne brennt trotz der frühen Stunde unerbittlich. Selker nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche und lässt den Blick über einen der größten Stauseen Deutschlands schweifen. Eingehegt ins Tal der Bigge und umgrenzt von tiefgrünen Nadel- und Laubbäumen präsentieren sich 8,3 Quadratkilometer gestautes Wasser – ein gigantisches Trinkwasserreservoir vor allem für das Sauerland und die Ruhrregion.
»Fantastisch«, sagt er und zeigt über den See. »Hier oben hat also schon mein Ururgroßvater gestanden und den Rundblick genossen?«, fragt Selker. Den Blick habe er wohl von der Anhöhe auf dem Dünnekenberg genießen können, sagt Tom Kleine, Pressesprecher der 25.000-Einwohner-Stadt Attendorn und Betreiber der Webseite »Juedisch-in-Attendorn«.
Aber der Biggesee ist erst in den 50er- und 60er-Jahren angelegt worden. Allerdings habe schon damals ein Wanderweg über die Erhebung geführt, der noch von Selkers Ururgroßvater Julius Ursell als Mitglied des Sauerländischen Gebirgsvereins (SGV) für Wanderer markiert worden sei.
Sauerland »Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 war der wanderlustige jüdische Unternehmer aus Attendorn als Wegewart des SGV für die Auszeichnung der Wanderwege rund um die Region der ehemaligen Hansestadt Attendorn verantwortlich«, erläutert Tom Kleine dem Besucher Paul Selker und seiner Lebensgefährtin Katharina Solow. Sie leben in der Nähe von Washington. Jetzt besuchen sie das Sauerland auf den Spuren ihres Vorfahren, der im 19. Jahrhundert ein prominenter Industrieller und Förderer der Wanderbewegung in der Region war.
Auf Initiative des pensionierten Lehrers Hartmut Hosenfeld, der die jüdische Geschichte der Stadt nördlich von Olpe erforscht hat, und des Pressemannes Tom Kleine hat der Sauerländische Gebirgsverein einen etwa zehn Kilometer langen Wanderweg konzipiert. Der »Julius-Ursell-Weg« führt durch das ehemalige »Schtetl« im Zentrum der Kleinstadt und dann hinaus auf die Anhöhen rund um Attendorn. Einst lebten hier nur knapp 30 Juden.
Fabrikantenfamilie Julius Ursell wurde als fünftes von sieben Kindern der Fabrikantenfamilie Ursell geboren. Begonnen hatte das Unternehmen bereits Mitte des 18. Jahrhunderts als kleine Fabrik A. A. Ursell für Weißblech- und Zinkwaren, die sich zu einer der führenden Blechwarenfabriken Deutschlands entwickelte. Zum Konzern gehörten bald auch eine Bijouteriefabrik sowie eine Verzinkerei.
Frühe Aufnahmen aus den Jahren 1901 und 1902 zeigen Julius Ursell als Mitglied im gymnasialen Musikchor und im Turnverein des städtischen Gymnasiums in Attendorn, erzählt Stadthistoriker Hosenfeld. »Er war sportbegeistert.« Nach dem Abitur begann er ein Medizinstudium, das er allerdings abbrechen musste, um in das Familienunternehmen einzusteigen. 1921 hat es »35 Angestellte, 176 Arbeiter, zwei Schwerkriegsverletzte und einen Eisenbahn-Transportverletzten beschäftigt«, sagt Hosenfeld. Ursell war damals der zweitgrößte Arbeitgeber in Attendorn, sozial und philanthropisch engagiert.
Reformjudentum Die Familie linderte auch durch die Stiftung oftmals mithilfe von Geld- oder Sachspenden die Not der Attendorner Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg und in den Jahren der Inflation sowie der großen Arbeitslosigkeit. Julius Ursell war dem Reformjudentum zugeneigt, auch wenn er immer, wenn notwendig, im orthodoxen Betsaal das Beterquorum komplettierte.
Der Naturfreund Ursell förderte die Jugendherbergsbewegung und war gleichzeitig Mitglied im 1890 gegründeten Sauerländischen Touristenklub, Sektion Attendorn, dem Vorläufer des heutigen Sauerländischen Gebirgsvereins in der südsauerländischen Stadt. Auf einer Geschäftsreise nach Belgien, bei der er 1936 einen Käufer für das Familienunternehmen suchte, erkrankte Ursell und starb. Sein Leichnam wurde verbrannt, die Urne später auf dem jüdischen Friedhof oberhalb von Attendorn beigesetzt. »Dieses Grab ist das einzige auf dem jüdischen Friedhof, dessen Grabstein nicht Richtung Jerusalem ausgerichtet ist«, erläutert Hosenfeld. Die Familie schaffte es, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren.
Hartmut Hosenfeld und Tom Kleine stehen mit Paul Selker und Katharina Solow auf dem neu angelegten Parkplatz »Am Feuerteich« im Zentrum von Attendorn vor einer Schautafel. Darauf ist der Streckenverlauf des Julius-Ursell-Wegs eingezeichnet und die Geschichte des SGV-Wegewarts erläutert. »Offiziell werden wir den Wanderweg im Oktober im Rahmen der ›Shalom Attendorn 2018‹ einweihen«, berichtet Kleine.
Der Julius-Ursell-Weg ist nach Kenntnis von Hosenfeld und Kleine die erste Wanderroute, die nach einem jüdischen Wanderer benannt ist. »Wir wollten damit den Sohn unserer Stadt und ein Mitglied des SGV ehren«, betont Kleine. Der heutige Wegewart des Gebirgsvereins, Gerhard Benninghaus, griff die Idee auf, und gemeinsam erarbeitete man eine Route, die historische Informationen über den Namensgeber und das jüdische Attendorn vor 1933 beinhaltet und gleichzeitig Erholungssuchende und Besucher von Stadt und Region in die hügelige Umgebung des Naturparks Ebbegebirge mit dem Biggesee in seinem Zentrum führt.
Stolpersteine Tom Kleine zeigt seinen Besuchern aus den USA in der Attendorner Altstadt Spuren jüdischen Lebens und führt sie vorbei an den beiden ehemaligen bekanntesten jüdischen Kaufhäusern, die bei den Novemberpogromen 1938 beschädigt wurden und wo heute Stolpersteine an die ehemaligen Besitzer erinnern. Direkt um die Ecke befand sich damals der letzte Betraum der jüdischen Gemeinde. Eine Bronzetafel verweist auf das Pogrom. Weiter geht es zu einem Kaffeehaus in der Fußgängerzone, in dessen Räumlichkeiten bis in die 30er-Jahre ein Mitglied der Großfamilie, Karl Ursell, ein Kaufhaus betrieb.
Nach einem Abstecher zum jüdischen Friedhof in den Höhen über Attendorn mit seiner Panoramasicht auf die Stadt führt der Weg zur Kölner Straße, wo noch heute das Verwaltungsgebäude und Teile der ehemaligen Fabrik A. A. Ursell zu sehen sind, und zum nahe gelegenen Wohnhaus von Albert Ursell, dem Geschäftsführer des Unternehmens. Auch den Gang durch die Altstadt kann sich der Besucher per QR-Code auf sein Smartphone laden und die detaillierten historischen Informationen über jede Station abrufen, erklärt Kleine.
Serpentinen Nach wenigen Metern liegt das Stadtzentrum hinter ihnen, und die Bigge ist überquert. Das Plätschern des Flusses und Vogelgezwitscher lösen den sich entfernenden Autoverkehrslärm ab. In Serpentinen windet sich der Weg die Anhöhe hinauf, signalisiert von den Markierungen des Julius-Ursell-Weges: drei dunkelgrüne, ungleich hohe Dreiecke, deren mittleres sich mit einem umgekehrten grauen Dreieck zu einem Magen David formt. Das Zeichen wird künftig Wanderer bei ihrer Tour auf dem Julius-Ursell-Weg begleiten und führen.
Vom Bigge-Blick führt der Pfad dann zurück am großzügig angelegten Wohnhaus vorbei, in dem der Philanthrop Julius Ursell mit seiner vielköpfigen Familie bis zu seinem Tode wohnte, in Attendorn als »Villa Zion« bekannt. »Die Familie freut sich, dass Attendorn unseren Vorfahren mit dieser Tour ehrt, der sich immer als Teil der Stadt und seiner Bewohner gefühlt hat«, sagte Selker zum Abschied. »Wir sind sehr stolz darauf.«
Bergsteigerisches Können ist nicht gefragt bei der Überwindung der gut 160 Höhenmeter vom Stadtzentrum bis hinauf zur Hütte, die an den Wochenenden bewirtschaftet ist und wo Wanderer bei einem kleinen Imbiss verschnaufen können. Direkt vor der Hütte liegt auch der neu errichtete »BiggeBlick«, eine Aussichtsplattform, die die Sicht weit über das südliche Sauerland erlaubt und nachts in ein metallisches Blau getaucht wird. »Der Weg ist familienfreundlich und auch für historisch interessierte Naturfreunde geeignet«, betont Kleine. Insgesamt ist der komplett ausgeschilderte und markierte Pfad etwas über 9,7 Kilometer lang, nur eine kleine Strecke (560 Meter) ist weitgehend naturbelassen.
Die Wanderstrecke sowie der Gang durch die Stadt lassen sich per QR-Code auf das Smartphone herunterladen.
Weitere Infos: www.juedisch-in-attendorn.org/julius-ursell-weg