Arm in Arm stehen Margot Friedlander und zwei sogenannte Stadtteilmütter in Berlin-Kreuzberg. Die Zeitzeugin blickt nach oben auf ein Fenster. »Das war unsere Wohnung, von der die Gestapo meine Familie im Januar 1943 abholte.«
Die heute 89-Jährige war damals zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause und entging so der Deportation. Ihre Mutter und ihr Bruder wurden nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. »Wenn ich so etwas erfahre, dann kriege ich eine große Wut«, sagt Hanadi Mourad. Sie floh mit neun Jahren aus dem Libanon mit ihrer Mutter und Geschwistern und bezeichnet sich selbst als Kriegskind.
Diese Szene hat Filmemacherin Julia Oelkers in ihrem Dokumentarstreifen Es ist auch meine Geschichte festgehalten. Mehrere Monate lang begleitete Oelkers die Migrantinnen, und zeigt, wie sie sich mit der jüngeren Vergangenheit Deutschlands und ihrer eigenen auseinandersetzten. Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste hatte erst das Projekt »Stadtteilmütter auf den Spuren der Geschichte« initiiert und organisiert, dann eine Broschüre herausgegeben und schließlich den 30-minütigen Film in Auftrag gegeben. Dafür war Oelkers mit ihrer Kamera stets mit dabei: auf dem Kreuzberger Hinterhof, in der Synagoge und dem ehemaligen »Zigeunerlager« Marzahn. Auch bei den Beteiligten zu Hause durfte sie drehen.
Kennenlernen »Sie sind wunderbar, offen und sehr interessiert an unserer Geschichte«, sagt Margot Friedlander über die Frauen aus Neukölln und Kreuzberg. Stadtteilmütter sind Migrantinnen, die ausländischen Familien in ihrem Kiez in Alltagsfragen helfen. Auch Rolf Joseph, Beter der Synagoge Pestalozzistraße und als Zeitzeuge im Einsatz, ist angetan von ihnen.
Die 89-jährige Friedlander, Schoaüberlebende, Zeitzeugin und Buchautorin sieht es heute als ihre Aufgabe an, mit Schülern und Erwachsenen über diese Zeit zu sprechen. »Es ist ein Erfolg für mich, auch mit diesen Damen darüber reden zu können«, sagt Friedlander. Auch wenn sie Kopftücher tragen, seien es moderne Frauen, meint sie. »Wir haben uns besonders gut verstanden.« Wie es hingegen um ihre Männer bestellt sei, wisse sie nicht.
Memduha Yagli ist betroffen, als Friedlander aus ihrem Buch die Passage über den Verlust der Familie und die »Schuld«, weiterleben zu können, vorliest. Obwohl die Kamera dabei ist, kann sie ihre Gefühle nicht verbergen.
»Ich finde es ergreifend, so etwas von einer Zeitzeugin zu hören«, sagt die 50-Jährige. Sie wurde in der Türkei geboren, hat aber fast ihr gesamtes Leben in Berlin verbracht. »Meine Geschwister und ich durften nur die Hauptschule besuchen«, sagt sie. Von den Nazis und der Schoa habe sie zum ersten Mal in der Schule gehört. Seitdem beschäftige sie sich mit der deutschen Vergangenheit immer wieder. »Ich lebe hier, somit ist es nun auch meine Geschichte.«
Synagoge Rolf Joseph steht vor der Synagoge in der Pestalozzistraße und wartet auf die drei Stadtteilmütter. Zwei von ihnen kommen mit Kopftüchern, und eine will ihm aus religiösen Gründen nicht die Hand geben. »Na ja, ich halte das ja für Quatsch, aber bei unseren Frommen ist es genauso«, meint Joseph. Er hatte sie in einem Seminar kennengelernt, in dem sie auf ihn einen neugierigen Eindruck machten und ihm sagten, dass sie einen Gottesdienst erleben wollten. Nun ist der Mo-ment gekommen. Die Beterschaft der Synagoge sei am Anfang über die drei Frauen mit den Kopftüchern schon etwas überrascht gewesen, meint er. Aber dann seien sie sehr nett empfangen worden.
Er sei besonders gerne bei den Stadtteilmüttern. »Sie machen keinen Unterschied zwischen den Nationalitäten und den Religionen der Menschen, und das ist das Schöne bei den Mädels«, sagt der 90-Jährige.
Vorurteil Es sei der Wunsch der Stadtteilmütter gewesen, mehr über die Nazizeit zu erfahren, sagt Jutta Weduwen, Referentin bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF). Dadurch kam das Projekt mit den Begegnungen zustande, denn sie sollten nicht von Büchern, sondern von Zeitzeugen lernen. Sie würden oft als bildungsfern dargestellt, streng muslimisch und antisemitisch.
Und hätten kein Interesse an der deutschen Geschichte – so lautet das Klischee, das durch die ASF-Seminare widerlegt würde. Als Julia Oelkers Stadtteilmütter für den Film suchte, seien nicht alle begeistert gewesen. Sie fühlten sich oft falsch dargestellt. »Es musste erst einmal Vertrauen entstehen«, meinte die Filmemacherin. Deshalb wollte sie auch bewusst nicht über ihre Protagonistinnen reden, sondern sie selbst zu Wort kommen lassen. Sie habe auch die Erfahrung gemacht, dass sie oft unterschätzt würden und ihnen viele Vorurteile entgegengebracht würden.
Hanadi Mourad meint abschließend, dass sie sich mit der Geschichte auskennt und diese auch an ihre Kinder weitergeben will. Berlin sei ihre Heimat geworden. Sie habe gute Erfahrungen in diesen Begegnungen gemacht. »Man bekommt einen anderen Einblick in die Welt.«
»Verglichen mit der Nazizeit ist unsere Geschichte natürlich ein Nichts«, sagt Memduha Yagli. Aber es sei eben auch ein Schicksal, das sie beeinflusst habe. »Und wir prägen Deutschland auch mit unserer Geschichte .«