Geschenktes Leben
Die Geschichte der Trude Simonsohn
Trude Simonsohn ist keine Frau großer Worten. Vielleicht umfassen ihre Lebenserinnerungen auch deshalb nur knapp 150 Seiten. Und doch stecken sie voller Ereignisse. Erzählt sind sie nüchtern, ohne emotionalisierende Zuspitzung. Eine fröhliche Kindheit im mährischen Olmütz, Ausgrenzung, Schmerzen, Hoffnung und die Sehnsucht, einmal im Gelobten Land zu leben, all das erzählt die heute 92-Jährige ohne jegliche Dramatisierung. Ihre große Kunst ist die Unmittelbarkeit. Auch die ganzen 30 Zeilen, die sie über ihr Leben in Auschwitz schreibt. Mehr Erinnerung sei ihr, Dank der »Ohnmacht ihrer Seele«, nicht geblieben – eine Fähigkeit, unsagbaren Schmerz auszublenden. Selbstheilungskräfte?
herz Am Ende ihrer Erinnerungen dankt Simonsohn Elisabeth Abendroth, die das, was Simonsohn ihr erzählt hat, aufgeschrieben und in ein Buch gefasst hat, mit zwei Sätzen und »von Herzen«. Herz – das ist das, was Simonsohn ausmacht, nicht überbordende, sondern tief empfundene Freundschaft zu ihren Freunden, zu den Mädchen und Jungen der Hachschara, zu Sonja Okun in Theresienstadt, den neun Frauen, mit denen sie in der Illegalität gelebt und die letzten Kriegswochen überstanden hat, zu dem Ehepaar Heydorn, das dem jungen Paar Bert-hold und Trude das Einleben im Nachkriegsdeutschland erleichtert hat, und zu ihrem Ehemann Berthold und ihrer Familie. Eine tiefe Freundschaft zu Karl Brozik von der Claims Conference und hoher Respekt gegenüber Ignatz Bubis. »Ich sammle Menschen«, schreibt sie – wie andere Briefmarken sammeln. Und ihre Offenheit, auf Menschen zuzugehen, ihnen Hilfe anzubieten und zu geben, überträgt sich auch auf den Leser.
Diese Frau möchte man über das Buch hinaus kennenlernen, gerade wegen ihrer Nüchternheit, ihrer Weltzugewandtheit, ihrer Unumwundenheit. Sie verliert keine überflüssigen Worte. Und in allem, was sie erlebt hat – Theresienstadt, Auschwitz, Groß-Rosen, Illegalität, die Sorge um ihren über Jahre hinweg schwerkranken Sohn – ist sie trotz allem ein positiver Mensch. Sie sagt von sich, dass sie das Glas stets als halb voll betrachtet. Ja, sie widerspricht auch Ignatz Bubis in seiner Depression nach rassistichen Ausschreitungen und der Paulskirchenrede von Martin Walser 1998, »seine ganze Arbeit sei umsonst gewesen. (...) Ich kann ihn verstehen, aber ich glaube nicht, dass er damit recht hatte«, sagt Trude Simonsohn.
zuhause Worte, die in ihrer Zuversicht Mut machen. »Ich bin nicht naiv«, betont sie, aber ein positiver Mensch, und sie verschweigt nicht ihre anfängliche Skepsis, als Überlebende in Deutschland zu bleiben. »Das Zuhause meiner Kindheit existiert nur noch in meiner Erinnerung. Heute kann ich sagen, dass ich vielleicht nicht in Deutschland, ganz sicher aber in Frankfurt zu Hause bin.«
Zwei weiße Flecken haben ihre Erinnerungen – Auschwitz und das Wiedersehen mit ihrer zerstörten Heimatstadt Olmütz. »Ich hatte viele Chancen, tot zu sein. Ich hatte Glück, trotz allem«, schreibt sie in dem Wissen, dass sie »ein geschenktes Leben« hat. Diese Kraft überträgt sich auf ihre Zuhörer wie auch auf die Leser dieses kleinen feinen Buches. Heide Sobotka
Trude Simonsohn: »Noch ein Glück, Erinnerungen«. Wallstein, Göttingen 2013, 151 S., 14,90 €
»Unendlich vergnügt«
Vier Tagebücher aus dem Jahr 1933
»Wir nahmen den Tannenbaum ab, packten den Adventskalender fort«, schreibt die ehemalige Lehrerin Luise Solmitz am 3. Januar 1933 in ihr Tagebuch. Das alte Jahr liegt nun nicht nur kalendarisch hinter ihr, ein neues hat bereits begonnen. Es wird ein Jahr werden, das ihr Leben auf den Kopf stellt; eines, dem sie sich voller Freude und Stolz öffnet, bis am Ende Besorgnis und dann auch Angst sich langsam durchsetzen. Denn die im Mai 1889 geborene Luise Stephan ist mit Friedrich Wilhelm Solmitz verheiratet, einem Ingenieur, im Ersten Weltkrieg erst Stabsoffizier, dann Major – politisch strikt konservativ orientiert, Tierschützer und »nichtarisch«, wie er 1935 im Fragebogen angeben wird, den seine Tochter aus der Schule mitbringt. Da muss seine Frau schon den Haushalt alleine regeln, ihre Hausangestellte musste das Ehepaar entlassen, auch dies ein Resultat der Nürnberger Gesetze.
hitler Doch noch ist es nicht so weit; noch schaut Luise Solmitz gebannt auf das, was passiert: »Der dritte u. letzte Tag der anbefohlenen Beflaggung von Staatsgebäuden ist vorüber – u. ob wir alle mitmachten!!«, notiert sie am 15. März 1933. Und knapp drei Wochen später: »Ich persönlich fühle mich unter der Diktatur außerordentlich wohl. Treue, Gehorsam, Beständigkeit u., glaube ich, Selbstzucht war es, was Hitler von seinen Leuten verlangte, u. das ist richtig. Von der Judengeschichte abgesehen, bin ich zwar nicht kritiklos aber unendlich vergnügt.«
Die Historiker Frank Bajohr, Beate Meyer und Joachim Szodrzynski kontrastieren dieses Tagebuch mit den 33er-Tagebüchern drei weiterer Hamburger: dem des Rechtsanwalts Kurt Fritz Rosenberg, dem des großbürgerlichen Cornelius Freiherr von Berenberg-Goßler, der ein Bankhaus führt und mit wachsender Skepsis auf die Nazis schaut, sowie dem von Nikolaus Sieveking. Letzterer, ein leicht melancholischer Fein- und Freigeist, gelernter Buchhändler, schließlich angestellt beim Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv, hat für Hitlers Horden schon bald nur noch Verachtung übrig: »Abends bei unserer Nachbarin Frau Cossen die Rede Hitlers im Sportpalast gehört. (…) Ich habe den Mann bis heute für dumm, für stur gehalten, für einen leidenschaftlichen, aber wenigstens gutgläubigen Verkäufer seiner fixen Ideen. Nach dieser Rede sehe ich in ihm nichts als einen ganz niederträchtigen Verleumder«, so sein Eintrag am 12. Februar 1933.
Es ist nun ganz gleich, wie man die vier Tagebücher liest, ob nacheinander oder gewissermaßen quer: also Monat für Monat. In jedem Fall entsteht ein bedrückendes wie zugleich vielschichtiges Porträt des Jahres 1933 in der Hansestadt. Zunächst private Ereignisse wie Familienfeste, aber auch der Abendbrottisch können immer weniger unbefangen genossen werden; seltener werden auch die anfangs noch offenen Gespräche mit Freunden und Verwandten über das, was sich überall mit wachsender Brutalität ereignet. Und so erzählen die vier Bücher auch von den jeweils ganz eigenen Bewältigungsstrategien; vom Umgang mit der Bedrohung, von kleinen Fluchten, dann von ersten Auswanderungsplänen. Was die vier Tagebuchschreiber am 31. Dezember 1933 noch nicht wissen, aber schon ahnen: Was sie in diesen zwölf Monaten erlebt haben, ist erst der Anfang eines großen Schreckens. Frank Keil
Frank Bajohr, Beate Meyer, Joachim Szodrzynski (Hrsg.): »Bedrohung, Hoffnung, Skepsis – Vier Tagebücher des Jahres 1933«. Wallstein, Göttingen 2013, 496 S., 34,90 €
Bewacht und beschützt
Thorsten Burgers Dissertation befasst sich mit der Judengasse
Die drei Tore waren nachts sowie an Sonn- und christlichen Feiertagen geschlossen. Einer der jüdischen Bewohner erhielt den Schlüssel, Stadtwachen wurden vor dem Tor postiert. Jüdisches Leben auf 275 Metern Länge und drei bis viereinhalb Metern Breite. Eine Gasse in Frankfurt, in der fast 100 Häuser standen und bis zu 2500 Menschen wohnten, handelten, lebten. 1462 war die Frankfurter Judengasse, das Ghetto, das die Juden von der übrigen Bevölkerung der Reichsstadt am Main abschottete, errichtet worden. Aber, so der Historiker Thorsten Burger, sie bot ihnen auch Schutz, sicherte Rechte und stellte eine »Alternative zur Vertreibung« dar.
ghettomauern In seinem Buch Frankfurt am Main als jüdisches Migrationsziel befasst sich Burger mit dem Leben in der Judengasse vom 15. bis ins 17. Jahrhundert. Einen fast 600 Seiten dicken Wälzer hat der junge Historiker verfasst, in dem er sich akribisch mit wirtschaftlichen, rechtlichen, sozialen und religiösen Facetten jüdischen Lebens zwischen den Ghettomauern im Frankfurter Wollgraben befasst. Mehrere Jahre hat Burger, der heute als Unternehmensberater arbeitet, an dieser Dissertation geschrieben, die von der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen herausgegeben wurde. Das mag nach trockener Lektüre klingen, ist aber keine.
Das Buch behandelt die »entscheidende Epoche« der Frankfurter Juden. Eine Zeit, in der die Gemeinde zum größten deutschsprachigen Zentrum des Judentums aufstieg und neben Prag zur bedeutendsten jüdischen Gemeinde in Europa. Sie war das »Jerusalem des Westens«, betont der stellvertretende Direktor des Jüdischen Museums, Fritz Backhaus. Eine Zeit, der das Jüdische Museum auf Grundlage des Buches auch eine Ausstellung widmet.
Burger hat bei seinen Recherchen so manche Überraschung zutage gefördert und neue Quellen erschlossen. Er räumt mit der bisherigen Annahme auf, dass die Geschichte der Judengasse und ihrer Bewohner ausschließlich eine Opfergeschichte ist. Zwar errichtet Frankfurt als eine der ersten Städte ein Juden-Ghetto, aber dieses habe auch Schutz geboten. Bis zum Fettmilch-Aufstand, bei dem 1614 für zwei Jahre alle Juden aus der Stadt vertrieben wurden, sei die Koexistenz von Juden und Christen überwiegend friedlich gewesen.
Die Bewohner des Ghettos waren durchaus wohlhabend, konnten ihr religiöses Leben ohne Eingriffe von außen pflegen. Es gab eine Schule, eine Synagoge, ein Tanzhaus, Wirtshäuser, ein Hospital, einen eigenen Rat und eine Judenordnung. Christen kamen, um Handel zu treiben. Burger schreibt: »Die Bewohner fühlten sich wohl. Es gab mehr Zu- als Abwanderung.« Nach dem Bau der Judengasse zogen insgesamt fast 400 Menschen zu. Frankfurt hatte damals 20.000 Einwohner. Die jüdischen Bürger stellten einen Anteil von zehn Prozent. Ein Angebot des Landgrafen an die Frankfurter Juden, doch nach Hanau umzusiedeln, lehnte die Gemeinde im Jahr 1603 rundum ab. Astrid Ludwig
Thorsten Burger: »Frankfurt am Main als jüdisches Migrationsziel zu Beginn der Frühen Neuzeit – Rechtliche, wirtschaftliche und soziale Bedingungen für das Leben in der Judengasse«. Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 2013, 596 S., 34 €
Versprechen gehalten
Ernest W. Michel gedenkt seiner Freunde
Ernest W. Michel hat viel erlebt. Er hat Konrad Adenauer getroffen, hat Theodor Heuss als Verleger kennengelernt und war beim Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eingeladen. Er war hoch angesehener Gesprächspartner und hat sich sein ganzes freies Leben lang als Repräsentant der United Jewish Federation für die Überlebenden der Schoa eingesetzt.
Schon mit Anfang 20 lud man ihn als Zeitzeugen ein. Damals war sein Englisch noch gebrochen, das Erleben nur wenige Jahre her. Ernst Michel, wie der in Mannheim Geborene damals noch hieß, war Überlebender von elf Arbeits- und Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, er flüchtete auf dem Todesmarsch. Doch nicht das allein ist es, was an Michels Buch Promises Kept – ein Lebensweg gegen alle Wahrscheinlichkeiten beeindruckt. Es ist vielmehr, wie er von seinem Schicksal berichtet. Anhand seines Lebens- und Leidenswegs erzählt er die Geschichte seiner Freunde, Weggefährten und Helfer. Ihnen setzt er ein Denkmal.
zufälle Und immer wieder kommt der Leser an einen Punkt, an dem er denkt: So viele Zufälle kann es doch nicht geben. Aber es gab sie, und ihnen verdanken Ernest Michel und einige seiner Freunde ihr Leben. Da ist etwa die Geschichte des gefeierten Tenors Miklos Gafni, den Michel als junger Journalist interviewen soll. Er erkennt in ihm seinen Freund Miklos Weinstock wieder, den in letzter Minute ein ungarisches Volkslied rettete. Auf dem Weg in die Gaskammern von Birkenau hatte der Soldat den Gefangenen befohlen, zu singen. Sie konnten nicht mehr. Miklos sang mit letzter Kraft. Der Wachmann war beeindruckt und ließ ihn leben.
Michel gedenkt all derer, die ihm und den Seinen das Leben gerettet haben. Er erzählt die wundersame Geschichte seiner kleinen Schwester Lotte, die die Eltern als Elfjährige in einen Zug nach Frankreich gesetzt haben, um sie durch einen Kindertransport zu retten. Doch es ging schief. Lotte kam ins Waisenhaus. Kurz bevor eine »Selektion« stattfinden sollte, kamen fünf Nonnen und erwirkten schließlich bei den Nazis, 24 Mädchen mitnehmen zu dürfen. Lotte war dabei.
Michel hatte in Mannheim verzweifelt versucht, einen sogenannten Affidavit zu bekommen, um nach Amerika ausreisen zu können. Durch Zufall lernte er einen Amerikaner kennen, der ihm half. Doch die Formalitäten zogen sich hin – für Ernst Michel zu lang. Doch auch die Verbindungen, die er durch seinen amerikanischen Brieffreund schuf, halfen ihm wenige Jahre später weiter. Acht Jahre nach Beginn dieses Briefwechsels traf er die Familie Lindsay wieder, und sie hielt an ihrem Angebot fest, ihm ein Studium zu ermöglichen.
erinnerung Michel setzt aber gerade seinen toten Weggefährten Erinnerungssteine, wie zum Beispiel seinem Freund Walter Josef Blum (1921–1944), der in Auschwitz an Tuberkulose erkrankte und den er als Pfleger im Krankenbau mit Brot und Margarine versorgte. Doch aller Einsatz half nichts. Der starke und unbeugsame Arbeitersohn Walter war durch die Krankheit schon so geschwächt, dass er leichteste Arbeiten, die in Auschwitz immer noch Schwerstarbeit waren, nicht ausüben konnte. Seine Freunde brachten ihm Blumen. »Blumen in Auschwitz! Ich fragte mich, wo er sie her hatte«, schreibt Michel.
Er nennt sein Buch Ein Lebensweg gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Es zu lesen, ist deshalb wichtig, weil es die Geschichte der vielen anderen erzählt, die nicht das Glück hatten, sich von einem 15-jährigen Lehrling in einer Kartonagenfabrik zu einem der höchstangesehenen Diplomaten in Sachen Hilfe für die Überlebenden der Schoa zu entwickeln. Ein berühmter und geschätzter Mann, der sein Überleben seiner Demut vor dem Leben verdankt. Heide Sobotka
Ernest W. Michel: »Promises Kept. Ein Lebensweg gegen alle Wahrscheinlichkeiten«. Wellhöfer, Mannheim 2013, 405 S., 17,90 €