Die Jüdische Allgemeine war für ihn »das Bekenntnis zu jüdischem Leben in Deutschland«, zugleich ein Seismograf dieser Republik. Zum 60-jährigen Bestehen wünschte er unserer Zeitung 2006: »Möge sie weiter wachsen, und das in einem Deutschland, das demokratisch, frei von Rassismus, ein verlässlicher Partner in einem friedlichen Europa und ein treuer Freund Israels ist.«
Karl Marx, den Gründer und Herausgeber des Jüdischen Gemeindeblattes in der britischen Zone, dem Vorläufer der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung in Deutschland, die später die Jüdische Allgemeine wurde, traf Ralph Giordano zum ersten Mal im Sommer 1947. Marx war für ihn Mentor und väterlicher Freund.
Er holte den Schoa-Überlebenden und jungen Journalisten im Herbst 1948 in die Redaktion im Düsseldorfer Vorort Benrath, wo er aber nur wenige Monate verbrachte. »Denn binnen Kurzem hatte ich mich als höchst unbegabt für Schreibtischarbeit erwiesen und kehrte reumütig und in Übereinstimmung mit dem Herausgeber zu meinen journalistischen Leisten zurück«, erinnerte sich Giordano später.
Berichterstatter Ralph Giordano arbeitete als Reporter und Kommentator, ab 1958 war er Berichterstatter der beginnenden NS-Prozesse vor deutschen Schwurgerichten. Auch nach 1966, als mit dem Tod von Karl Marx die traditionsreiche Zeitung in die Herausgeberschaft des Zentralrats überging, blieb er ihr treu. Die Jüdische Allgemeine habe alle Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte widergespiegelt, »die ermutigenden und die entmutigenden« notierte er einmal.
Noch vor wenigen Tagen hatte Ralph Giordano sich vom Krankenbett aus telefonisch in der Redaktion gemeldet. Zum einen informierte er uns über seinen Gesundheitszustand. Zudem wollte er wissen, ob sein Artikel erschienen sei. Es war ein Text über den Tod seiner Frau Helga, die Autonomie über das eigene Leben und die Verlogenheit der Debatte um ärztlich assistierten Suizid.
kollege Wir schickten ihm Blumen und Genesungswünsche in die Klinik. Freundlich dankte er mit einem kurzen Anruf. Auch diesmal, wie immer, wenn wir mit ihm telefonierten, ihn persönlich sprachen oder er eine seiner Faxnachrichten schickte, verwendete er die Anrede »Kollege«.
Dieses Wort aus seinem Mund zu hören, war für viele von uns eine Auszeichnung. Gelegentlich betonte er, dass er stolz darauf sei, »dienstältester Mitarbeiter dieser Zeitung« zu sein und dass er hoffe, dies auch bis zu seinem Ende bleiben zu können. Auch in der Ausgabe dieser Woche steht sein Name im Impressum.
In der Nacht zum Mittwoch ist Ralph Giordano 91-jährig in einem Kölner Krankenhaus verstorben. Wir trauern um einen kritischen Begleiter, ein Vorbild und vor allem einen Kollegen. Und auch wenn Ralph Giordano kein besonders religiöser Jude war: Sichrono Lewracha, möge sein Andenken gesegnet sein. ja