Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen, Mark Gutkin, zu Beginn der Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Rolf Abrahamsohn seine Rede immer wieder unterbrach, um den 2021 verstorbenen Vorsitzenden der Gemeinde selbst zu Wort kommen zu lassen. So zeigte ein Video Abrahamsohn, wie er auf dem jüdischen Friedhof Recklinghausen von dem sprach, was er selbst sein Schicksal nannte.
Abrahamsohn berichtete darin, wie er mit anderen Juden aus dem Kreis Recklinghausen in ein Ghetto im lettischen Riga deportiert wurde, wie die Nazis seine Mutter erschossen und wie er von Freunden davon abgehalten werden konnte, mit ihr in den Tod zu gehen, weil sein Vater und sein Bruder ihn brauchen würden. Doch die waren, was Abrahamsohn nicht wusste, zu diesem Zeitpunkt bereits in Auschwitz ermordet worden.
Durch sieben Konzentrations- und Arbeitslager zwangen ihn die Deutschen, bis Abrahamsohn am 8. Mai 1945 in Theresienstadt halb verhungert von der Roten Armee befreit wurde. Er kehrte nach Recklinghausen zurück und baute in der Nähe, in seiner Geburtsstadt Marl, das Geschäft seines Vaters wieder auf.
Abrahamsohn überlebte sieben Konzentrations- und Arbeitslager
»Ich wollte nicht mehr in Deutschland leben, aber die Briten ließen mich nicht nach Palästina, und in die USA konnte ich auch nicht einreisen«, erzählt er in dem Video. In der noch jungen Bundesrepublik erlebte Abrahamsohn dann, wie das einstige NSDAP-Mitglied, der Marler Amtsbürgermeister Friedrich Wilhelm Willeke, der die Enteignung des väterlichen Geschäfts durchgesetzt hatte, seine politische Karriere fortsetzen konnte. »Sie haben ihn einfach wiedergewählt«, erinnerte sich Abrahamsohn. Willeke baute nach 1945 die CDU mit auf und war von 1953 bis zu seinem Tod im Jahr 1965 Bundestagsabgeordneter.
Abrahamsohn blieb aber und baute die Jüdische Gemeinde Bochum-Recklinghausen auf, deren Vorsitzender er von 1978 bis 1992 war. Aus ihr gingen 1999 die beiden heutigen Gemeinden Recklinghausen und Bochum-Herne-Hattingen hervor. Er erzählte in Schulen von seinem Schicksal. Dazu hatte ihm ein Rabbiner geraten, der ihm einmal gesagt hatte: »Wenn du von allen Leuten nur einen Jugendlichen überzeugen kannst, dass Juden nicht schlechter sind als die anderen, dann hast du viel erreicht.«
Der Vorsitzende war aktiv für ein anderes Deutschland.
Recklinghausens Landrat Bodo Klimpel (CDU) dachte auf der Gedenkfeier laut darüber nach, was Abrahamsohn wohl über das heutige Deutschland denken würde: »Was würde er empfinden, wenn er die Bilder von Menschen gesehen hätte, die in Berlin nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober gejubelt und gefeiert haben?«
»Wie würde er darüber sprechen«, fuhr Klimpel fort, »dass eine in Teilen rechtsextreme Partei als zweitstärkste Fraktion in unseren Bundestag einzieht?« Klimpel sagte, er schäme sich für eine Entwicklung in Deutschland, die dazu führt, dass Juden nicht mehr sicher sind. Der Landrat lobte Abrahamsohns unermüdliche Arbeit für Versöhnung. »Sein Kampf muss jetzt unser Kampf sein.«
Abraham Lehrer, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, erinnerte an die Jugend Abrahamsohns in Marl vor der NS-Zeit. Er sei in einer Umgebung aufgewachsen, in der sein Judentum keine Trennlinie zu anderen Kindern darstellte. »In seiner Kindheit«, so Lehrer, »hatte er viele nichtjüdische Freundinnen und Freunde, ohne dass seine jüdische Herkunft eine Rolle spielte. Doch mit dem Aufstieg der NSDAP und der Ernennung Adolf Hitlers 1933 zum Reichskanzler fanden nicht nur diese Freundschaften ein jähes Ende.«
Nach der Schoa kehrte er in das Land der Täter zurück
Gesellschaftliche und politische Prozesse wurden in Gang gesetzt, an deren Ende die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung stand. Alle Angehörigen Abrahamsohns seien in der NS-Zeit ermordet oder an den Folgen von Krankheiten verstorben.
Nach der Schoa war er in das Land der Täter zurückgekehrt, die ihm alles genommen hatten – aber Abrahamsohn wollte nie aufgeben: Er habe unermüdlich den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinschaft im Ruhrgebiet vorangetrieben, half bei der Neugründung zahlreicher Gemeinden und unterstützte Projekte in Israel.
»Rolf Abrahamsohn war ein Mahner und Zeitzeuge«, erinnerte sich Lehrer. »Er arbeitete aktiv für ein anderes Deutschland.« Vor Schülern zu sprechen, sei ihm nicht schwergefallen, aber vor Erwachsenen, die vielleicht Nazis gewesen seien, habe das anders ausgesehen. Am Ende seiner Rede schlug Lehrer einen Bogen in die Gegenwart.
Obwohl seine Feinde ihn vernichten wollten, habe er sich in sein Leben zurückgekämpft.
Am Vortag hätten drei aus Österreich kommende Syrer an dem Gedenkort für die Geiseln vor dem Jüdischen Museum in München randaliert. Als die Sicherheitskräfte eingriffen, habe einer von ihnen ein Messer gezückt. Zu einer Messerstecherei sei es nicht gekommen, sagte Lehrer, aber er könne nicht verstehen, dass alle drei mittlerweile schon wieder auf freiem Fuß seien. »Ich bin dankbar, dass Rolf Abrahamsohn die Entwicklungen nicht mehr miterleben musste.«
Recklinghausens Polizeipräsidentin Friederike Zurhausen, Trägerin der 2018 vom Kreis gestifteten Rolf-Abrahamsohn-Medaille, erinnerte sich an die vielen Begegnungen, die sie mit dem früheren Gemeindevorsitzenden hatte. Sie sei stolz gewesen, als Abrahamsohn sie 2020 sogar zu sich nach Hause eingeladen hatte. Dort erhielt er von Nordrhein-Westfalens damaligem Ministerpräsidenten Armin Laschet den Landesverdienstorden.
Oft sprach Abrahamsohn mit Jugendlichen über seine Geschichte
Zurhausen zitierte daraufhin aus dem Lied »Mensch« von Herbert Grönemeyer die Zeilen: »Und der Mensch heißt Mensch, weil er irrt und weil er kämpft. Und weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt.« Abrahamsohn habe sich in sein Leben zurückgekämpft, obwohl seine Feinde ihn vernichten wollten.
Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung kam Abrahamsohns Sohn André zu Wort. »Dass Sie meines Vaters über seinen Tod hinaus gedenken, hätte ihn sehr gefreut und berührt.« Oft habe sein Vater mit Jugendlichen über seine Geschichte gesprochen, die Zeitzeugen hätten Großes geleistet. Seine Botschaft: Ihnen sei, wie seinem Vater, wichtig gewesen, dass sich die Unmenschlichkeit nicht wiederholt.