Normalerweise ist der Elul für mich der schrecklichste Monat im ganzen Jahr», seufzt Hanna Liss, Professorin für Bibel und jüdische Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. «Der Sommerurlaub ist vorbei, ich bin meist immer noch nicht richtig erholt, und gleichzeitig rückt der Semesterbeginn schon bedrohlich nahe.»
Zu allem Überfluss kündigt sich gerade dann jedes Jahr aufs Neue der Elul an. Ganz unvermittelt sei es immer wieder so weit, sagt Liss und lacht. «Der Monat klopft ja nicht mal an, er ist einfach da und sagt: ›So, hier bin ich! Nutze die Zeit vor Rosch Haschana, um dir mal über einiges klar zu werden, um das letzte Jahr Revue passieren zu lassen, um dich auf das neue Jahr einzustimmen!‹»
änderungen Es sind nicht eben wenige Fragen in dieser Zeit der Selbstüberprüfung, die sich die 48-jährige Professorin stellt: «Soll es so weitergehen wie bisher? Was willst du anders machen? Ist dein Leben gut so, wie es ist? Wann hast du zum letzten Mal so richtig Spaß an deiner Arbeit gehabt? Welches war das beste Buch, das du im letzten Jahr gelesen hast?»
Meist reagiere sie eher unwillig auf diese Fragen, die sie bedrängen, gibt Liss zu: «Du kommst gerade ausgesprochen ungelegen!» – das sei zu Beginn des Elul oft ihr erster Gedanke. Für gewöhnlich tritt sie mit dem Monat dann in einen inneren Dialog: «Siehst du nicht, wie viel ich zu tun habe? Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, ich muss die wenigen Tage, die mir noch bis zum Feiertagsmarathon bleiben, effizient arbeiten. Lass mich in Ruhe!»
Oft gehe der Monat Elul dann ganz still und leise vorbei, berichtet Liss. «Es macht mich traurig, wenn ich es wieder nicht schaffe, den Elul nicht wie einen Bittsteller fortzuschicken, sondern ihn hineinzubitten und mich in Ruhe mit ihm hinzusetzen.»
chance In diesem Jahr jedoch hat Liss den Elul angemessen gestaltet – wenn auch aus unvorhergesehenem Anlass. «Im Juni schickte mir der Monat einen Vorboten, der mir eine schwere Krankheit mitbrachte. Dabei war der Elul nicht etwa böse auf mich, er sah wohl nur keine andere Gelegenheit, mich einmal in Ruhe zu treffen», scherzt sie. «Aus diesem Grund war, als der Elul vorletzte Woche wie immer anklopfte, alles anders: Ich habe ihn hineingebeten und mich in Ruhe mit ihm hingesetzt. Unsere ganze Familie hat gemeinsam überlegt, wie dieses Jahr ein Jahr werden kann, das nicht durch Zerrissenheit gekennzeichnet ist.»
Für die Zukunft hat Hanna Liss sich fest vorgenommen, sich mehr Zeit für sich selbst und andere zu nehmen. «Ich werde versuchen, mich an einer alten biblischen Weisheit zu orientieren: an den Zeiten, die sich abwechseln und die sich ergänzen.» Generell ist die Hebräische Bibel für die Wissenschaftlerin eine Quelle ebenso weiser wie zeitgemäßer Lebensmaximen. Besonders angetan hat es ihr ein Satz im Buch Kohelet. Dort stehe, dass es «eine Frist fürs Weinen und eine Frist fürs Lachen, eine Frist fürs Klagen und eine Frist fürs Tanzen, eine Frist fürs Steinewerfen und eine Frist fürs Steinestapeln» gebe.
Traditionell ganz bewusst erlebt hingegen Michael Grünberg die Wochen des Elul. Der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Osnabrück und Vorstand des Bundes Traditioneller Juden kümmert sich vor den Hohen Feiertagen um die Familiengräber und geht, wann immer es ihm möglich ist, morgens zum Schacharit in die Synagoge. Wenn dann das Schofar zum Abschluss des Gottesdienstes erklinge, «ist das für mich sehr beeindruckend. Dieser Ton führt mich sofort auf mich selbst zurück».
ziele Natürlich lässt auch Grünberg in diesen Wochen das abgelaufene Jahr Revue passieren: «Ich frage mich stets: Was waren meine Ziele – und welche davon habe ich erreichen können?» Das ist für Grünberg eine ganz und gar persönliche Frage. Nur vor Gott und vor sich selbst möchte er Rechenschaft ablegen.
Obwohl seine Stimmung in den Elul-Tagen für gewöhnlich ernst sei, empfinde er gleichzeitig auch immer Aufregung: «Ich fühle wie ein Kind eine intensive Vorfreude auf die Hohen Feiertage», berichtet er. Denn für ihn und die Gemeinde stehen diese Wochen im August in Osnabrück im Zeichen großer Erwartungen. «Der Kantor, der Rabbiner und der Hausmeister der Synagoge sind vollauf mit den Vorbereitungen für die Feiertage beschäftigt», erzählt der Gemeindevorsitzende: «Innen und außen muss alles in Ordnung gebracht werden».
Rund 300 Kilometer südlich von Osnabrück lebt Bernhard Quensel. Der Wirtschaftsjurist arbeitet in einer großen Frankfurter Kanzlei und ist beruflich stark eingebunden. Deshalb schafft er es auch im Elul nicht, morgens vor dem Büro in die Synagoge zu gehen. Also bläst er das Schofar eben täglich zu Hause in seiner Wohnung.
«Dann kommen gleich unsere beiden Kinder angelaufen», erzählt Quensel stolz. «Sie lassen alles stehen und liegen, wenn sie das Schofar hören, und kommen mit großen strahlenden Augen und ihrer Freude über das Außergewöhnliche dieses Augenblicks aus allen Richtungen der Wohnung angerannt.»
Widderhorn Quensel und seine Frau Anastasia sind überzeugt, dass schon ihre kleinen Kinder die Bedeutung der eindringlichen Erinnerung, die in dem kräftigen Signal des Widderhorns anklinge, verstehen und spüren. «Kurz: Dass Großes im Gange ist, dass Gott für uns da ist, wenn wir nur für ihn bereit sind», so der Familienvater.
«Natürlich geht das normale bürgerliche Leben mit allen seinen Pflichten trotzdem weiter», sagt Anastasia. «Das ist nicht immer ganz leicht.» Hinzu kommen die Vorbereitungen für die Feiertage. Manche ihrer Freunde nutzen zurzeit deshalb das Internet, um sich in Online-Schiurim auf Rosch Haschana und Jom Kippur vorzubereiten und tauschen sich auf Facebook darüber aus, was diese besonderen Tage für sie persönlich bedeuten. Manche Freunde ändern vorübergehend ihre Lebensgewohnheiten, hat Anastasia beobachtet. «Plötzlich trinken sie statt herkömmlicher nur noch koschere Milch aus Israel.»
Anastasia selbst sieht das eher nüchtern: «Warum soll ich nur in diesem einen Monat darüber nachdenken, was sich in meinem Leben ändern muss, und nicht auch in den anderen elf?»