Neben den »1700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland« lässt sich noch über ein anderes Jubiläum reden. Im Januar 1991, also vor gut 30 Jahren, beschloss die deutsche Ministerpräsidentenkonferenz, jüdische Menschen aus der Sowjetunion nach Deutschland einreisen zu lassen. Die erste demokratische Regierung der DDR hatte ihnen dies allerdings bereits seit April 1990 für ihr Staatsgebiet gewährt. Die Menschen kamen: bis Anfang der 2000er-Jahre etwa 220.000. Die jüdischen Gemeinden wuchsen um ein Mehrfaches.
Das »Deutschland Archiv«, ein wissen-schaftliches Online-Portal der Bundes-zentrale für politische Bildung mit Sitz in Bonn, nahm im Rahmen seines seit Herbst 2020 laufenden Projekts mit dem Titel »Jüdinnen in Deutschland nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven« diese 30 Jahre zum Anlass, jungen Frauen ein Podium zu geben, sie über die jüdische Frauenperspektive dieser Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion reden und laut nachdenken zu lassen.
»Denn da gibt es Defizite, blinde Flecken«, wie das die Publizistin Sharon Adler ausdrückte. Die Gründerin und Chefredakteurin von AVIVA, dem Online-Magazin für Frauen, moderierte die zweistündige Online-Veranstaltung.
Für den Impulsvortrag zugeschaltet wurde die Soziologin Julia Bernstein von der Frankfurt University of Applied Sciences.
Nach einleitenden Worten von Anja Linnekugel von der Bundeszentrale wurde ans Podium übergeben. Dort saßen Alina Gromova, Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Jüdischen Museum Berlin, geboren 1980 in der Ukraine, Darja Klingenberg, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie der Viadrina Universität Frankfurt/Oder, geboren 1981 in Tadschikistan, sowie Greta Zelener, Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin, Geburtsjahr 1990, Geburtsort: das ukrainische Odessa.
»ALTEINGESESSENE« Für den Impulsvortrag zugeschaltet wurde die Soziologin Julia Bernstein von der Frankfurt University of Applied Sciences, geboren 1972 ebenfalls in der Ukraine. Ihre soziologischen Studien, die auf Befragungen der Zugewanderten beruhen und sich künstlerisch-wissenschaftlicher Methodik bedienten, gaben entlang von Zitaten der neu Angekommenen ein lebendiges Bild davon ab, wie sich die Menschen damals gefühlt haben mochten.
Auf dem Podium reflektierte man daran anknüpfend und gestützt auf eigene wissenschaftliche Studien wie auf persönliche Erfahrungen über die 90er-Jahre, gab auch den Müttern und Großmüttern eine Stimme und landete schließlich bei der Gegenwart, die sich jetzt, vor dem erschlossenen Hintergrund, für alle »außerhalb« – für die sogenannten Alteingesessen, die sich ruhig als angesprochenes Zielpublikum begreifen durften – besser verstehen ließ.
Alina Gromova berichtete aus ihrer Kinder- und Jugendzeit vor der Emigration.
Die Selbstauskünfte der Eingewanderten, die Bernstein präsentierte, waren so individuell wie Ausdruck eines gemeinschaftlich empfundenen Grundgefühls. Die Beweggründe, nach Deutschland zu gehen, basierten häufig auf der Überzeu-gung, dass sich dieses Land zu einem »Anti-Naziland« ohne Antisemitismus entwickelt habe, man für die Kinder, aber auch für sich bessere Bildungs- und Aufstiegschancen erwartete.
UNSICHERHEITEN Dabei gab es da durchaus auch Stimmen, die deutlich machten, dass man sich in der Sowjetunion zu Hause gefühlt habe, allerdings mit dem Bewusstsein, »dass, wenn etwas passiert, wir sofort die Sündenböcke sind«. Die Anfangszeit in den unterschiedlichen Unterkünften sei sehr von »Unsicherheiten, irgendetwas falsch zu machen«, geprägt gewesen, referierte Bernstein, und die Einordnung der eigenen Biografie plötzlich schwierig: »Man wurde hier auf einmal anders wahrgenommen, anders als man sich selbst bisher immer begriffen hatte, nämlich als Teil einer kulturellen Elite.«
Antisemitismus, der entgegen der Erwartungen in Deutschland sehr wohl und zunehmend vorhanden war, habe dieses Land für die aus den ehemaligen Sowjetstaaten Eingewanderten und deren Kinder und Kindeskinder dann doch wieder in ein Kontinuum zum »Land der Täter« gestellt. »Und fast alle von ihnen sahen in Israel einen Zufluchtsort«, sagte Bernstein.
GROSSELTERN Alina Gromova berichtete aus ihrer Kinder- und Jugendzeit vor der Emigration: »Meine Generation befand sich da in der glücklichen Lage, einmal von den Großeltern noch einiges an Nähe zum Judentum erfahren zu haben, und ab den 90ern waren dann ja auch einige jüdische, international tätige Organisationen vor Ort. Wir hatten Anlaufstellen und wirklich das Gefühl einer jüdischen Community.«
Greta Zelener aus Odessa
»Ich dachte lange, ich müsste mich entscheiden. Heute weiß ich, ich kann alles sein.«
Gromova stellt weiter fest, dass sich vieles von dem, was die jüdischen Zugewanderten in Deutschland erlebt hätten, auf die »übergeordnete Frage« übertragen lasse, »wie die deutsche Gesellschaft generell mit Eingewanderten umgehe«, wie hierarchisierend – »ganz anders als in den USA« – Sprache, mit oder ohne Akzent, funktioniere.
Darja Klingenberg meinte, dass man ge-genüber den Neueingewanderten »durchaus eine gewisse Überheblichkeit« gespürt und auch Vorbehalte aus der Mehrheitsgesellschaft übernommen habe. Außerdem wies sie sozusagen korrigierend darauf hin, dass es in der ehemaligen Sowjet-union zwar Diskriminierung gegenüber Juden gegeben habe, man aber dennoch von einer »Aufstiegsgeschichte« sprechen könne. Viele hätten sich etabliert. »Und es gab da eben auch eine starke säkulare Tradition, eine spannende Gemengelage eben«, die die Sowjetkultur durchaus mitgeprägt habe.
Greta Zelener erzählte, dass sie dadurch, dass sie auf die jüdische Schule in Berlin gegangen sei, ihrer Familie »das Judentum wieder zurückgebracht« habe. Weil sie in der deutschen Gesellschaft vor allem als Russin wahrgenommen worden sei, man ihr oft die Frage gestellt habe: »Und du bist wirklich auch noch Jüdin?«, habe sie alles »bis zum Butterbrot« aus ihrer »Sowjet-Vergangenheit« infrage gestellt. »Ich dachte lange, ich müsste mich entschei-den zwischen der russischen, jüdischen oder deutschen Identität«, erinnert sie sich. »Heute weiß ich, ich kann alles sein.«