Optimismus und Zukunft sind die beiden vorherrschenden Begriffe in den Festreden zum Doppeljubiläum der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Optimismus, da die Gemeinde fest in der Stadtgesellschaft verankert ist, und Zukunft, weil sie auf die Jugend baut. Das betonte auch Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig, seit 14 Jahren die »First Lady« in Chemnitz, in ihrer Begrüßung zum Festakt.
Ihr Abschied als Stadtoberhaupt – bei der kommenden Wahl wird sie nicht erneut antreten – wird nicht zuletzt von der Jüdischen Gemeinde sehr bedauert, hat sich doch in den vergangenen Jahren das Verhältnis zwischen Stadt und Kehilla immer vertrauensvoller gestaltet. Ludwig und andere Spitzenpolitiker machten immer wieder deutlich, dass ihnen die jüdischen Einrichtungen am Herzen liegen, waren oft bei Feier- und Kulturtagen zu Gast und boten demonstrativen Rückhalt.
Neugründung Am Montag dieser Woche wurde der 135-jährige Geburtstag der Chemnitzer Gemeinde ebenso gefeiert wie die 75-jährige Wiederkehr ihrer Neugründung im September 1945. Beide Jubiläen machte Barbara Ludwig zur Chefsache. Sie schlug bei ihrer Festrede im Georgius-Agricola-Gymnasium einen historischen Bogen und machte zugleich deutlich, welch integralen Bestandteil die Jüdische Gemeinde im heutigen Leben der Stadt bildet.
Ende der 80er-Jahre zählte die Gemeinde noch ganze zwölf Mitglieder.
»Chemnitz erlebte im frühen 20. Jahrhundert eine Erfolgsgeschichte jüdischer Zuwanderung, mit Unternehmern, Ärzten, Künstlern, Handwerkern, Wissenschaftlern und Architekten, die vieles in dieser Stadt enorm voranbrachten«, betonte die Oberbürgermeisterin.
»Aber mit dem Nationalsozialismus öffnete sich der Abgrund, und die Werte des Humanismus fielen komplett aus.« Um nach der Schoa als jüdische Überlebende überhaupt nach Deutschland zurückzukommen, dazu habe es schon eines besonderen Optimismus bedurft.
rückkehrer Wie viele andere Redner erinnerte auch Ludwig an einen der 18 Rückkehrer, die 1945 den Neubeginn wagten, an den vor wenigen Wochen verstorbenen Siegmund Rotstein sel. A., der die Gemeinde von 1966 bis 2006 als Vorsitzender leitete.
Ende der 80er-Jahre zählte die Gemeinde noch ganze zwölf Mitglieder, doch für das Wunder eines plötzlichen Wachstums, das durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion in den 90er-Jahren tatsächlich eintrat, war sie gewappnet.
»Heute werden in Chemnitz wieder jüdische Kinder geboren, es gibt einen jüdischen Kindergarten, und das ist ein Glück für die Stadt«, sagte Ludwig. »In Ostdeutschland haben wir viele Städte mit einer beeindruckenden jüdischen Geschichte, aber nur wenige mit Rückkehrern nach 1945, die solche neuen Kontinuitäten schufen.«
Enthusiasmus Heute zählt die Chemnitzer Gemeinde wieder mehr als 500 Mitglieder. Seit 2006 wird sie von der in Israel geborenen Erziehungswissenschaftlerin und Religionspädagogin Ruth Röcher geleitet. Auch Röcher zeigte sich beeindruckt vom Enthusiasmus und Mut der Wiedergründer. »In diesem ehrwürdigen Gymnasialgebäude stellte die Stadt Chemnitz 1945 der wiedererstehenden Gemeinde einen Raum für Gottesdienste zur Verfügung. 18 Frauen und Männer nahmen die Herausforderung an und legten den Grundstein für die Fortführung jüdischen Lebens in der Stadt. Persönlichkeiten wie Hans Kleinberg, Siegmund Rotstein und Renate Aris haben dafür gesorgt, dass die Gemeinde auch in DDR-Zeiten weitergeführt wurde, und dafür gilt ihnen unschätzbarer Dank.«
Der Wiederaufbau 1945 schien aussichtslos, der Mut der Rückkehrer ermöglichte ihn.
Röcher, die seit Beginn der 90er-Jahre nicht nur in Chemnitz, sondern auch in Dresden und Leipzig den jüdischen Religionsunterricht neu aufbaute, sieht die Rückkehrer und Wiedergründer von 1945 als ein »hervorragendes Beispiel, wie man ein Unterfangen mit Mut und Optimismus beginnen kann, auch wenn es scheinbar aussichtslos erscheint«.
Optimismus war auch das Stichwort für Zentralratspräsident Josef Schuster, der sich den ganzen Tag für Chemnitz Zeit nahm. Am Vormittag besuchte er den Jüdischen Kindergarten und das Gemeindezentrum in der Stollberger Straße, am Nachmittag den Festakt im Agricola-Gymnasium und am Abend eine Podiumsdiskussion zu jüdischer Geschichte, Gegenwart und Zukunft in Sachsen.
Schuster und Röcher schrieben sich zudem in das Goldene Buch der Stadt Chemnitz ein. Während seiner Dankesrede im Rathaus betonte der Zentralratspräsident: »Nach all dem, was ich heute gesehen habe, ist mir um die Zukunft der Gemeinde in dieser Stadt nicht bange.«
Identität Sachsens Landesrabbiner Zsolt Balla zeigte sich ebenfalls angetan: »Dieser Tag ist ein Meilenstein in der Geschichte der Chemnitzer Gemeinde. Und es ist fantastisch, wie die Zusammenarbeit mit der Stadt funktioniert.«
Eine Vision für die Jugend brachte der 15-jährige Michael Leon Khurgin auf den Punkt: »Die Gemeinde hat mir geholfen, eine starke jüdische Identität zu entwickeln. Aber wir können und sollten auch über die Gemeinde hinauswirken. Es geht um die Zukunft dieser Stadt, in der wir auch mit anderen Religionen ins Gespräch kommen sollten.«
Abgerundet wurden die Jubiläumsfeierlichkeiten mit einer gut besuchten Podiumsdiskussion im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz (SMAC), dem ehemaligen Kaufhaus der Gebrüder Salman und Simon Schocken. Hier verwies der Historiker Jürgen Nitsche auf die Besonderheit, dass die Chemnitzer Gemeinde vor 1933 zu einem beträchtlichen Teil aus Unternehmern bestand.
wohltätigkeit Mit dem wirtschaftlichen Erfolg sei bei ihnen auch eine bemerkenswerte Wohltätigkeit einhergegangen: Jüdische Kaufleute gründeten Stiftungen für Waise und Kranke – gleich welcher Religion –, engagierten sich als Mäzene unter anderem im Verein »Kunsthütte« für bildende Kunst, wovon noch heute die Bestände der städtischen Kunstsammlungen zeugen.
Der junge Politologe Alexander Beribes wünscht sich mehr jüdische Sichtbarkeit der Gemeinde in der Öffentlichkeit.
Innovative Vorschläge, wie sich jüdische Gemeinschaft und nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft künftig noch besser miteinander verzahnen können, zeigte der junge Politologe Alexander Beribes, erster Barmizwa in Chemnitz nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, auf. Er wünsche sich mehr jüdische Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, aber auch mehr Juden in den politischen Parteien der Bundesrepublik. Für den Freistaat erhoffe er sich in naher Zukunft ein Jüdisches Museum entweder in Chemnitz, Dresden oder Leipzig, idealerweise kombiniert mit einem interkulturellen Begegnungszentrum.
Renate Aris, Holocaust-Überlebende und langjähriges aktives Mitglied der Chemnitzer Gemeinde, sprach über Verunsicherungen seit dem Anschlag von Halle. Die Sicherheitsmaßnahmen seien notgedrungen verstärkt worden. Dennoch, so Aris, könne man Chemnitz um die Offenheit der Jüdischen Gemeinde beneiden.