Der Hubert-Burda-Saal war voll, als wir am 11. März mit über 100 Geflüchteten aus der Ukraine zu einem ersten gemeinsamen Schabbaton zusammenkamen: ein fröhlicher Abend unter traurigen Vorzeichen. Heute denke ich oft an diese Zeit und ihre großen, fast unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten zurück, weil wir damals gezeigt haben, zu welchen Leistungen unsere Kultusgemeinde in der Lage ist. Mitarbeiter und die vielen freiwillig engagierten Mitglieder wuchsen im Moment der Not über sich hinaus.
Die Frage, wie wir als jüdische Gemeinschaft und als Gesellschaft insgesamt mit dem Epochenbruch des Krieges umgegangen sind, wird alle Rückblicke auf das zu Ende gehende jüdische Jahr bestimmen. Sie wird aber nicht die einzige Frage sein. Herausforderungen und Aufgaben gab es 5782 in großer Zahl, und alte und neue Bedrohungen werden uns auch im neuen Jahr begleiten.
konsens Allen voran sehe ich hier erneut den Judenhass, der zuletzt von radikalen Kräften wie den »Querdenkern« heftig angefacht wurde und bis heute auf viel zu hohem Niveau verharrt. Schon jetzt kündigt derselbe Extremismus, der im vergangenen Winter mit Hass auf Impfungen und mit vielen antisemitischen Untertönen hervorgebrochen ist, sich erneut an.
Dem großen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass die Belastungen unserer Zeit nur gemeinsam zu schultern sind, stellen antidemokratische Kräfte einen nationalistischen Egoismus entgegen. Im Zentrum dieser gefährlichen Vermengung von Autoritarismus und Feigheit steht wieder einmal die AfD. Ihrer rechtsextremen Hetze wird der Staat in Zukunft noch deutlicher antworten müssen; die sozialen Härten eines schweren Winters müssen politisch bedacht und abgemildert werden, um denen keinen Auftrieb zu geben, die von Angst leben.
Die jüdische Gemeinschaft plant weiter für eine Zukunft in diesem Land.
Zugleich liegt auf der Hand, dass eine Gruppierung wie die AfD nicht nur auf der unmittelbar politischen Ebene bekämpft werden kann. Die Institutionen zum Schutz der Demokratie selbst sind gefragt, und sie nehmen diese Aufgabe auch an. Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass die AfD inzwischen auch bei uns in Bayern in Gänze vom Verfassungsschutz beobachtet wird – ein Schritt, der für meine Begriffe nicht zu früh kommt. Das Kölner Gerichtsurteil vom März, das die bundesweite Einstufung der AfD als Verdachtsfall für rechtens erklärt hat, zählt für mich deshalb zu den wenigen herausragend guten Nachrichten der vergangenen zwölf Monate.
schutz Dies gilt umso mehr, als die Justiz sich an anderer Stelle um den Kampf gegen Judenhass zuletzt leider weniger verdient gemacht hat. Bei allem Respekt vor der Rechtsprechung: Dass das Bundesverwaltungsgericht im Januar den Beschluss der Landeshauptstadt München aufhob, der Veranstaltungen der antisemitischen und israelfeindlichen BDS-Kampagne in städtischen Räumlichkeiten untersagt hatte, bleibt mir bis heute völlig unverständlich.
Sicherlich wurde damals nach Paragrafen korrekt entschieden – aber wenn immer mehr Mitglieder der jüdischen Gemeinden den Eindruck gewinnen, dass die Gesetze leichter zu ihrem Schaden ins Feld zu führen sind als zu ihrem Schutze, dann ist das ein fatales Zeichen für die viel gerühmte jüdische Zukunft in Deutschland.
Dass auch kulturelle Einrichtungen kein Gegengewicht gegen solche Fehlentwicklungen bilden, hat die nicht enden wollende Peinlichkeit namens documenta bewiesen. Eine völlig sorglose Haltung gegenüber offenem und codiertem Judenhass hat die einstmals renommierte Kunstausstellung in diesem Jahr zu einem Menetekel für die Antisemitismusbekämpfung in Deutschland werden lassen. Unbeschadet aller großen Worte, die hierzulande gern gegen den Judenhass geschwungen werden, haben die Verantwortlichen einer der wichtigsten Kunstausstellungen der Welt Künstler mit antisemitischer Bildsprache über Monate gewähren lassen – mitten in Deutschland.
veränderungen Eine eigene Reaktion lehnten sie lange patzig ab, Veränderungen gab es nur nach massivem Druck von außen. Die schier endlose Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen rund um die Ausstellung, die Selbstgefälligkeit der Entscheider und ihre offensichtliche Blindheit für ein Problem, das sich noch immer vor aller Augen offenbart, wird nicht nur die jüdische Gemeinschaft noch lange beschäftigen. Die Blamage von Kassel hat deutlich gemacht: Das Einstehen gegen Judenhass, das nötig wäre, damit die opulent gefeierten 17 Jahrhunderte jüdisch-deutscher Vergangenheit in diesem Land auch eine Zukunft haben, sind noch immer nicht in der nötigen Breite konsensfähig.
Es ist unbestreitbar, dass das zu Ende gegangene Festjahr durchaus etwas bewegt hat in der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen.
Dabei ist unbestreitbar, dass das zu Ende gegangene Festjahr durchaus etwas bewegt hat in der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen. Diese Entwicklung kann Hoffnung machen. Zeitungen berichteten über das Judentum abseits von Anschlägen und Sorgen, Trambahnen mit jüdischen Motiven verkehrten in deutschen Städten. Jüdische Themen sind nicht länger randständig und abseitig. All das bleibt nicht ohne Folgen, im positiven Sinne.
neubau Die jüdische Gemeinschaft ihrerseits plant trotz aller Herausforderungen weiter für eine Zukunft in diesem Land. Wie am 11. März stehen wir auch jetzt fest zusammen. Im kommenden Jahr 5783 werden wir in München die lang erwartete Einweihung der neu erbauten Zaidman-Seniorenresidenz feiern können; nach dem Jüdischen Zentrum vor 15 Jahren und der nötigen Vergrößerung des Helene-Habermann-Gymnasiums im vergangenen Herbst wird dies das dritte Neubauprojekt, das die Gemeindestrukturen dauerhaft zukunftsfähig macht.
Wichtig ist mir ganz persönlich auch, dass wir mit unserer jüdischen Gemeinschaft weiter auf die breite Gesellschaft zugehen. Alle Münchnerinnen und Münchner lade ich deshalb an dieser Stelle ganz herzlich zum öffentlichen Blasen des Schofars zu Rosch Haschana auf dem Jakobsplatz am kommenden Montag ein: Diesen besonderen Moment zum Beginn des neuen Jahres möchten wir mit der ganzen Stadtgesellschaft teilen.
Für das neue Jahr wünsche ich uns allen Glück, Gesundheit, G’ttes Segen und ganz besonders: Frieden. Schana towa – gmar chatima towa!