»Es geht um ein strukturelles Problem«, brachte es die Grünen-Politikerin Sanne Kurz, Sprecherin für Kultur und Film, die zu der Veranstaltung am Dienstagabend vergangener Woche im Bayerischen Landtag eingeladen hatte, auf den Punkt. Den Titel »Über jeden Verdacht erhaben? – Antisemitismus in Kunst und Kultur« hatte sie sich von der geladenen Publizistin und Literaturwissenschaftlerin Stella Leder geliehen, die 2021 einen Sammelband mit verschiedenen Ansätzen zum Thema Antisemitismus herausgegeben hat.
An der Podiumsdiskussion in München nahmen die Schriftstellerin Lena Gorelik, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, und die Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger (Bündnis 90/Die Grünen) teil. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, kam der Einladung nach, eine Keynote zu halten.
»Antisemitismus war nie weg in unserem Land«, sagte Fraktionsvorsitzende Katharina Schulze. Statistiken würden belegen, dass er in allen Teilen der Bevölkerung präsent ist – Tendenz steigend. »Das ist nicht hinnehmbar«, betonte Schulze mit Nachdruck. Judenfeindliche Straftaten hätten sich im letzten Jahr fast verfünffacht, deren Zahl sei auf dem Höchststand seit Beginn der Aufzeichnung. Die Dunkelziffer sei indes noch viel höher.
videobotschaft »Antisemitismus beginnt vor der strafrechtlichen Verfolgung, er beginnt schon mit Kommentaren, mit Beleidigungen, mit Anschuldigungen«, so Kulturministerin Claudia Roth, die nicht persönlich an der Veranstaltung in München teilnehmen konnte, in einer Videobotschaft. »Kunst ist frei – aber wie jede Freiheit hat sie Grenzen und muss sich der Kritik stellen. Das macht eine offene Gesellschaft auch aus.«
»Es soll heute nicht erneut um die Künstler gehen«, sagte Charlotte Knobloch, die sich zum Judenhass auf der documenta 15 äußerte. Der Fokus sollte vielmehr auf den Verantwortlichen liegen, die den organisatorischen Rahmen geschaffen hätten, sich jedoch bis heute nicht als Verantwortliche verstehen würden. »Mit ihrer bis zuletzt unverändert aggressiven Abwehrhaltung war die Leitung der documenta leider völlig repräsentativ für ein grundlegendes Problem des deutschsprachigen Kulturbetriebs«, fügte die IKG-Präsidentin hinzu.
»Es soll heute nicht erneut um die Künstler gehen«, sagte Charlotte Knobloch, die sich zum Judenhass auf der documenta 15 äußerte.
Sie verwies auf das umstrittene Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder von 1975, auf die Rede von Martin Walser im Rahmen der Verleihung des Friedenpreises des Deutschen Buchhandels vor 24 Jahren in der Paulskirche und auf die antisemitischen Texte der Rapper Kollegah und Farid Bang, die vor viereinhalb Jahren mit dem »Echo«-Musikpreis ausgezeichnet wurden. Konsequenzen würden kaum gezogen, vielmehr beobachte sie eine Art wiederkehrende Empörung anstatt einer dauerhaften Lösung. Frequenz und Intensität würden zwischenzeitlich zunehmen. »Wenn man im Kampf gegen judenfeindliche Vorfälle in der Kulturszene nicht jedes Mal wieder bei null anfangen müsste, wäre schon viel gewonnen«, betonte Knobloch.
debatte In der anschließenden Podiumsdiskussion gab der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, den Ausführungen der IKG-Präsidentin recht: »Ich wünschte, ich könnte Charlotte Knobloch widersprechen. Aber das geht nicht. Wir haben ein Problem in der Kunstszene.« Antisemitismus sei in der Musik, Literatur und in den bildenden Künsten zu beobachten. Eine angemessene Debatte über das Problem habe auch nach den Antisemitismus-Skandalen auf der documenta nicht stattgefunden.
»Ohne Selbstreflexion geht es nicht«, mahnte Knobloch. »Kultur ist ein Bindemittel der demokratischen Gesellschaft, sie hält uns zusammen, und – was besonders wichtig ist – sie ist unser gemeinsames Gedächtnis. Sie verhandelt und bewahrt, was uns bewegt.« Auf lange Sicht brauche es deshalb eine Einsicht innerhalb der Kulturszene.
»Antisemitismus scheint bisher kein Ausschlusskriterium in der deutschen Kunst- und Kulturlandschaft zu sein. Das oft bekundete ›Nie wieder‹ ist mehr Phrase als ernst gemeinte Haltung«, sagte Marlene Schönberger, zuständige Berichterstatterin der Grünen-Fraktion für die Bekämpfung von Antisemitismus und die Förderung jüdischen Lebens. »750.000 Menschen sind durch die Kunstschau geschlendert und haben Exponate gesehen, die mit antisemitischen Denkmustern und Stereotypen arbeiten.«
Meist müssen Betroffene auf Judenhass aufmerksam machen.
Zwei Punkte seien aus ihrer Sicht unbestritten: Weder gebe es einen tolerierbaren Antisemitismus noch eine Immunität gegenüber Judenhass. Dabei handele es sich um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. »Er ist von Europa aus in die ganze Welt importiert worden«, sagte Schönberger.
Bei der nötigen Aufarbeitung dürfe es nicht nur um die documenta gehen, denn Antisemitismus im Kunst- und Kulturbereich sei »ein tiefgreifendes Problem«. Das sei auch daran zu erkennen, dass sehr viele Menschen die problematischen Kunstwerke gesehen haben mussten, bevor sie auf der documenta ausgestellt wurden. »Aber niemand hat interveniert«, so Schönberger. Meist müssten Betroffene selbst auf den Antisemitismus aufmerksam machen. Als weiteres Beispiel nannte sie Paul Celan und die Gruppe 47.
»reizthema« »Es waren Jüdinnen und Juden, die darauf hingewiesen haben«, sagte die Schriftstellerin Stella Leder. Den jüdischen Studierenden, die vor Kurzem im Fall des Theaterstücks Vögel im Metropoltheater interveniert hatten, wurde vorgeworfen, sie wollten »ein Reizthema zum 9. November setzen«, berichtete sie. Dabei sollten doch die Urheber des Antisemitismus im Mittelpunkt stehen und nicht die, die ihn erkennen und kritisieren.
Sanne Kurz stellte die Frage in den Raum, ob Künstlerinnen und Künstler nicht wüssten, an welchem Punkt Judenhass beginne. »Viele Personen haben stabile antisemitische Einstellungen«, sagte Marlene Schönberger. Das gelte auch innerhalb ihrer eigenen Partei. Kurz sieht daher in der Bildung einen großen Handlungsbedarf. Programme würden sich vor allem an Jugendliche richten, während es für Erwachsene keine vergleichbaren Angebote gebe.
Dies sei so, als ginge man von der Annahme aus, Antisemitismus ab 27 Jahren, der rechtlichen Grenze für staatliche Förderung derartiger Initiativen, existiere nicht. Gemeinsam wollten sie diese Forderung für Bildung und Prävention in die Partei tragen, so die beiden Grünen-Politikerinnen.