Michel Bergmanns Mame war eine Übermutter, die ihr Kind über alles liebte. Gleichzeitig konnte er ihr nichts recht machen. Er wurde »nur« Journalist, er interessierte sich für die falschen Frauen, abgesehen davon, dass in ihren Augen keine gut genug sein konnte.
Dass er, 1945 in Riehen als Kind internierter Schoa-Überlebender geboren, ein erfolgreicher Regisseur, Filmproduzent und Drehbuchautor, zum Beispiel von Otto – Der Katastrofenfilm (2000), wurde, hat sie gewiss noch mitbekommen; den Erfolg seiner familiengeschichtlich inspirierten, in Frankfurt angesiedelten Trilogie über Die Teilacher (2011), gefolgt von Machloikes und Herr Klee und Herr Feld, nicht mehr. Ihr Lebensmut hatte sich bereits im November 2001 restlos erschöpft.
publikum Bergmann, der mit seinem nach eigener Zählung achten Buch – sein allererstes, gemeinsam mit seiner Frau Anke Apelt verfasstes, nicht mitgerechnet – im Jüdischen Gemeindezentrum in München das Publikum begeisterte, setzte seiner Mutter Charlotte mit Mameleben ein Denkmal. Sie war einmal außergewöhnlich attraktiv und voll praktischer Intelligenz gewesen.
Als Frau des Jahrgangs 1916 war sie im Alter nicht nur rechthaberisch, das war sie gemäß Episoden aus ihrem wechselhaften Leben schon vorher, sondern depressiv und des Lebens müde geworden. Das Kind im Sohn bewunderte sie, wuchs auf »mit der Lebenslüge, man bleibt nur vorübergehend in Deutschland«, litt unter ihrem tagelangen Schweigen, wenn sie ihn treffen wollte, »die schwerste aller Strafen«.
Am Ende hat er sie beschrieben, ohne sie zu verletzen: die schwierigsten Momente einer erfolgreichen, vom Leben und von den Mitmenschen zutiefst verletzten Frau. Er tat dies mit Humor, Sympathie und (Selbst-)Erkenntnis. Bergmann kennt keine Schreibblockaden, er charakterisiert seine Arbeit als eine Mischung aus Humor und Tragik, frei nach einem Plakatspruch am einstigen großen jiddischen Theater in Wilma: »A jiddisches Leben – a Tragedie mit Musik und Tanz«.
eltern Ernst wurde es im Gespräch mit Ellen Presser, als er auf das Weiterleben seiner Eltern einging: »Ich bin am Rande eines Massengrabs groß geworden. Tote saßen mit am Tisch, mittags, abends.« Er wusste, wie viele Verwandte Vater und Mutter verloren hatten. Und er wusste es später auch vom Stiefvater, obwohl der über den Verlust seiner ersten Frau und kleinen Tochter nie sprechen wollte.
Bergmann schreibt über die letzten Dinge und setzt Flashbacks in frühere gute und schlechte Zeiten. Ob das Schreiben psychoanalytische Bedeutung habe? Das Ja mündet in eine weitere Anekdote. Der befreundete Schauspieler Anatole Taubman rief nach der Lektüre an, das Buch sei wunderbar, aber er habe sich sehr geärgert, »weil ich Tausende von Franken für Therapie bezahle und du bekommst noch Geld dafür«.
Michel Bergmann: »Mameleben oder das gestohlene Glück«. Diogenes, Zürich 2023, 244 S., 25 €