An diesem Montagmorgen ist Markus Jentus schon im Einsatz: auf dem Weg zu Jonathan, der trotz seiner körperlichen Behinderung selbstbestimmt in seinem Apartment wohnt. Montags ist der Freiwillige oft bei dem 28-Jährigen. Jonathan sitzt im Rollstuhl, den er elektrisch bedienen kann. Auch sprechen kann er. Auch wenn Markus nicht fließend Hebräisch spricht und Jonathan nur wenig Englisch: Die beiden verstehen sich. Markus zeigt Jonathan, wie er Musik auf seinem neuen Smartphone installiert und welche Streamingdienste angesagt sind. »Wir haben eine richtig gute Zeit«, sagt Markus.
Der Heilbronner kam im Oktober 2020 mit dem Deutsch-Israelischen Freiwilligendienst (DIFD), einem Programm der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), nach Israel. Ein Jahr, angefüllt mit neuen Erfahrungen. »Mein Bild von Israel hat sich nicht wirklich verändert«, sagt der 19-Jährige, der zuvor im Stuttgarter Jugendzentrum Halev aktiv war. Überrascht hat es ihn dennoch, »dass man sehr nett behandelt wird, wenn man sagt, dass man aus Deutschland kommt und Freiwilliger ist«.
Markus’ Einsatz ist bei der Organisation Kivunim angesiedelt, wo er Menschen mit Behinderung im Alter zwischen 18 und 28 Jahren mitbetreut. »Ich hoffe, ich bringe vielen von ihnen Farbe in einen ansonsten grauen Alltag«, sagt Markus. Denn Jonathan bekommt sonst nie Besuch. Er ist auf nicht-staatliche Hilfe angewiesen.
PARTNER Das ist bei vielen Einsatzstellen Realität, sagt Erik Erenbourg. Seit Ende 2020 laufen bei dem Koordinator in Frankfurt, der Internationale Beziehungen studiert hat, die Fäden für das Freiwilligen-Programm der ZWST zusammen. »Unsere Kooperationspartner, soziale Organisationen vor Ort, sind oft Einsatzstellen, deren Bewohner durchs staatliche Raster fallen, ob Behinderte, Senioren oder Kinder und Jugendliche aus schwierigen familiären Verhältnissen.«
Hier kommt die ZWST ins Spiel. Und das seit nunmehr sechs Jahren. Gegründet wurde der DIFD 2015 anlässlich des 50. Jahrestages deutsch-israelischer diplomatischer Beziehungen. »Damals ging es darum, ein Format zu schaffen, in dem beides zusammenkommt: Israelis in Deutschland und Deutsche in Israel. Das Neue daran war, dass die jüdische Struktur in Deutschland miteingebunden werden sollte«, sagt Laura Cazés, die das Konzept damals für die ZWST entwickelte.
Dieser Aspekt sollte unbedingt in den pädagogischen Rahmen eingebettet sein. Wie sehen unterschiedliche Perspektiven auf Israel aus, eben auch die junger Juden? Wie unterscheidet sich die Erfahrung, länger in Israel zu leben, von Besuchen? Was bedeutet das für den Diskurs untereinander – zwischen jüdischen und nichtjüdischen Freiwilligen? Den DIFD wollte Cazés nicht nur als Begegnungs-, sondern vor allem als konkretes Auseinandersetzungsformat verstanden wissen. Diese Facette habe ihr beim deutsch-israelischen Austausch mitunter gefehlt, sagt die heutige Referentin für Verbandsentwicklung und Leiterin der Kommunikation und Digitalisierung bei der ZWST.
»Oft hatte ich das Gefühl, jüdischen Israelis, die nach Deutschland kommen, wird hier eine jüdische Geschichte präsentiert, in der völlig ausgelassen wird, dass es eine jüdische Lebensrealität heute gibt.« Da werde »auf der Asche deutscher Geschichte verhandelt, wie man sich jetzt wieder verträgt, und es wird überhaupt nicht mit eingelesen, dass es eine, wenn auch kleine, jüdische Community in Deutschland gibt«.
KLISCHEES Ein weiterer Aspekt ist Laura Cazés wichtig. Die jüdischen Freiwilligen, die nach Israel gehen, entdecken ein Land jenseits der Klischees von Milch und Honig. »Wenn sie sich plötzlich in einem Altersheim wiederfinden, wo sie neben den Bewohnern auch auf Angestellte treffen, die womöglich aus einer anderen Schicht kommen, erleben sie die israelische Gesellschaft viel differenzierter.« Statt nur auf den Pfaden der Geschichte zu wandeln, haben sie die Chance zu fragen: Wie geht die israelische Gesellschaft mit sozialen Problemen um? »Es ist spannend zu sehen, wie der Realitätscheck einsetzt und die Erkenntnis dämmert, dass weder Deutschland noch Israel so einfach zu erklären und zu verstehen sind«, sagt Cazés.
Gefördert wird das Programm vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Von ihm müssen die Einsatzstellen anerkannt sein, ebenso vom Ministerium für Wohlfahrt und soziale Dienste in Israel. »Die Einsatzstellen bauen auf die Hilfe von Organisationen wie uns, denn sie sind auf die Unterstützung von Freiwilligen angewiesen«, sagt Erik Erenbourg. Es sei eine Win-win-Situation für beide Seiten – die Einsatzstellen bekommen Unterstützung, die Volontäre sammeln Erfahrungen fürs Leben.
Das kann Silvi Behm bestätigen. »Wenn die 18-Jährigen hier ankommen, frisch nach der Schule, sind sie noch ziemlich unselbstständig«, stellt die pädagogische Koordinatorin fest. Nach einem Jahr seien die jungen Leute wie ausgewechselt: viel selbstbewusster – und auch bewusster im Umgang mit anderen.
Das Konzept bindet die jüdische Community in Deutschland mit ein.
Silvi Behm lebt in Haifa. Seit 18 Jahren betreut sie Volontäre aus Deutschland. Beim DIFD war sie von Anfang an dabei. »Für die jungen Leute ist so ein Freiwilligendienst ein großer Schritt – und dann auch noch in Israel!«, sagt die Pädagogin. Auf einmal viele Dinge allein zu organisieren, »ohne dass Mama die Wäsche wäscht oder das Essen zubereitet«, in einer WG mit anderen Gleichaltrigen zusammenzuleben – dafür brauche man viele Fähigkeiten. Durch die Arbeit lernten die jungen Leute nicht nur das, sondern auch zu teilen, zu geben und was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
»Irgendetwas wird immer nicht passen. Entscheidend ist, was man selbst aus dem Jahr macht«, ist Julia Melnikova überzeugt. Schon in Würzburg, wo die 22-jährige Studentin aufwuchs, engagierte sie sich als Madricha im Jugendzentrum. Nach dem Abitur wollte sie aus ihrer Komfortzone heraus. »Ich bin positiv an die Sache herangegangen und habe super Erfahrungen gemacht.« Das begann schon mit dem ZWST-Vorbereitungsseminar in Bad Sobernheim.
In Israel angekommen, übernahm dann Silvi Behm. Sie ist jeden Tag erreichbar, außer am Schabbat und an den Feiertagen. Natürlich kommt es übers Jahr auch zu Reibungen. Dann wird Silvi Behm neben Workshop-Organisatorin, Visaverlängerungs-Profi und Notaufnahme-Vermittlerin auch salomonische Streitschlichterin. »Ich fahre hin, beziehe die Sozialarbeiter vor Ort mit ein, führe Gespräche.« Wenn etwa jemand seinen Dienst spätnachts beendet und Krach macht, während die anderen schon schlafen, oder drei Mitbewohner ein Kätzchen anschaffen wollen und einer nicht.
RAKETEN All das seien »Kleinigkeiten« im Vergleich zu den Raketen, die im Mai auf Israel niedergingen. Silvi Behm steckte da gerade mitten in der Planung für ein Seminar über kulturelle und religiöse Minderheiten in Israel – ganz im Sinne des ZWST-Grundkonzepts von Kultursensibilität, Vielfalt und der Frage, was es bedeutet, jüdisch in Deutschland, nichtjüdisch in Israel zu sein. Ob sie Bedenken hatte? Ja, natürlich, meint sie. Schließlich wolle sie niemanden in Gefahr bringen. »Wenn es zu gefährlich gewesen wäre, hätte ich es abgesagt, das ist klar.«
Trotz der zweiwöchigen Krisensituation gab es für 2021/22 keine einzige Absage. Das liegt zum einen an der professionellen Vorbereitung seitens der ZWST, ist Behm überzeugt. Zum anderen hätten die Menschen gelernt, mit Israel umzugehen. »Es ist immer ein Auf und Ab hier, das haben auch die Volontäre längst begriffen.«
Ein Volontär, der vor sechs Monaten wegen Corona nicht nach Israel kommen durfte, ist nun beim Turnus 2021/22 dabei.
Ein Volontär, der vor sechs Monaten wegen Corona nicht nach Israel kommen durfte, ist nun dabei. Er habe ihr geschrieben: »Wenn man nach Israel kommen will, muss man alles in Kauf nehmen.« Ein anderer Volontär, der zurzeit sein Freiwilligenjahr absolviert, habe ihr aus dem Sirenengeheul heraus geschrieben: »Jetzt kann ich Israel besser verstehen.« Auch in dieser Situation waren die Freiwilligen nicht allein – im Gegenteil.
Silvi war zur Stelle, ebenso die Sozialarbeiter in den Einrichtungen wie auch Erik Erenbourg aus Frankfurt: eine Erfahrung von Wärme und Gemeinschaft von allen Seiten. »Der DIFD hat sehr viel Potenzial«, findet Erik Erenbourg. Es ist ein sehr wichtiges Projekt für die ZWST, deren Hauptfokus eigentlich auf der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland liegt.
Gerade der Austausch zwischen Deutschen und Israelis, Juden und Nichtjuden sei ein wichtiger Baustein im gesellschaftlichen Zusammenleben – weil er wirkliches Verständnis füreinander schafft. Bei jüdischen Israelis setze nach gewisser Zeit der Prozess des eigenen Bezugs zu Deutschland ein, erzählt Laura Cazés. Und nichtjüdische Freiwillige berichten neben dem Verständnis für Israel von einer weiteren Art Aha-Erlebnis: »So sieht also der Lebensalltag einer jüdischen Person in Deutschland aus.«
Hinzu kommt, dass das ZWST-Konzept für den DIFD zukunftsorientiert sei, erklärt Erik Erenbourg. Natürlich ist die Schoa ein wichtiger Teil der jüdischen Geschichte und komme auch in den Seminaren vor. »Aber vor allem geht es uns um die Interaktion und Zusammenarbeit der nächsten Generation von Israelis und Deutschen – und zwar auf Alltagsniveau, nicht auf Politiker-Ebene.« Wenn jeder »etwas Kleines beiträgt« in seiner individuellen Umgebung, von seinen Erfahrungen erzählt, könne das schon viel bewirken, meint auch Silvi Behm. Ihre Hoffnung ist, dass die Volontäre »gute Botschafter für Israel« sind.
Botschafter Gerade jetzt, vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse und der bestehenden Vorurteile in der deutschen Gesellschaft gegenüber dem Staat Israel gehören solche Freiwilligendienste zu den »effektivsten Werkzeugen«, findet auch ZWST-Direktor Aron Schuster. Der DIFD-Slogan »Sei kein Tourist, sondern ein Botschafter« habe schnell Früchte getragen. »Die Deutschen, die in Israel waren, haben einen ganz anderen Blick auf den jüdischen Staat«, sagt Schuster, »weil sie ihn von einer ganz anderen Seite kennenlernen und dadurch viel besser nachvollziehen können, unter welcher Bedrohungslage sich die Zivilbevölkerung in regelmäßigen Abständen befindet.«
Im Hinblick auf die geplante Gründung eines deutsch-israelischen Jugendwerks bilde der Freiwilligendienst einen wichtigen Baustein.
Aron Schuster, ZWST-Direktor
Auch im Hinblick auf die beabsichtigte Gründung eines deutsch-israelischen Jugendwerks bilde der Freiwilligendienst der ZWST als vom BMFJFS-getragenes Projekt einen wichtigen Ansatz und Baustein, sagt Schuster. Eine wichtige Rolle komme zudem den Ehemaligen zu. »Wir versuchen, die Alumni einzubinden, auch im Rahmen der Vorbereitungsseminare für neue Freiwillige.«
Darüber hinaus hätten sich bei einigen Freiwilligen über ihr Einsatzjahr hinaus Dinge ergeben, die auch der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland wieder zugutekommen. »Viele haben sich danach bei uns ehrenamtlich im Bereich der Jugendarbeit engagiert.« Ein Jahr Israel sei ein Türöffner für »so viel mehr«. Und für die ZWST ein Weg, Kinder und Jugendliche zu begeistern, die bisher weniger an ihre Gemeinden angebunden waren und nun das organisierte jüdische Leben in Deutschland entdecken und einen eigenen Zugang zu ihrer Identität finden.
Umso mehr freut es Aron Schuster, dass die ZWST in diesem Jahr so viele Freiwillige wie noch nie nach Israel entsendet. 21 – das ist die höchste Anzahl seit Gründung des DIFD. Umgekehrt kommen ab Herbst rund zehn israelische Freiwillige nach Deutschland – auch das ist ein Rekord.
Programmkoordinator Erik Erenbourg führt dieses große Interesse auf mehrere Faktoren zurück. Zum einen wollen die jungen Menschen nach einem Jahr Pandemie-Dauerzustand »einfach hinaus in die Welt«. Zum anderen habe er massiv für das DIFD-Programm geworben, auf der Webseite, in sozialen Netzwerken, durch die Empfehlung ehemaliger Volontäre, auf verschiedenen Freiwilligen-Portalen.
FOKUS Jeder Koordinator bringe seinen speziellen Fokus in das Projekt ein, sagt Erenbourg. Er selbst will Akzente setzen bei der Zusammenarbeit mit neuen israelischen Partnerorganisationen, vor allem auch für die Anwerbung junger israelischer Freiwilliger. »Die jüdischen Gemeinden in Deutschland sind sehr glücklich über die Hebräisch sprechenden Freiwilligen«, sagt Erenbourg. Auch für sie ist es eine Win-win-Situation.
Die Gemeinden bekommen Unterstützung, die jungen, meist säkularen Israelis lernen jüdisches Leben in der Diaspora kennen. Für die Einrichtungen der Gemeinden wie Kitas, Schulen, Gemeinde- und Jugendzentren, Altenheime sei das eine wunderbare Möglichkeit, Freiwillige mit israelischem Hintergrund in Gemeinden mit einzubinden, findet Aron Schuster.
Die ZWST ist mittlerweile eine feste Größe unter den etablierten Entsendeorganisationen. Einige Einsatzorte variieren. Andere bleiben bestehen. In diesem Jahr entsendet die ZWST die Freiwilligen vorrangig in ein Wohnprojekt für Menschen mit Autismus, in Altenheime, ein Wohnheim für Kinder und Jugendliche mit Atemproblemen sowie in ein Rehabilitationszentrum.
Auf »seine« Einrichtung im Norden Israels wurde Markus durch einen ehemaligen Freiwilligen aufmerksam. Auch wenn er Heimweh habe und fast täglich mit seinen Eltern telefoniere, sei er hier glücklich. »Ich lerne sehr viel«, sagt er. Zum Beispiel: dass jeder Mensch gleich ist. Denn dieses Jahr habe ihm gezeigt, »dass es normal ist, anders zu sein«.