Auf einem Grundstück im Leipziger Stadtteil Lindenau steht eine Tür einen Spaltbreit offen. Sie befindet sich dort, wo auch früher der Eingang war, doch sie steht allein. Das Haus, in das sie hineinführen sollte, fehlt und hat eine Lücke hinterlassen. Die Tür ist Teil eines Projektes, das der Verein Gedenkort Josephstraße 7 ins Leben gerufen hat. Es soll an die Menschen erinnern, die einst hier lebten und arbeiteten: die Familie Lotrowski und Familie Reiter, der das Haus gehörte und die im Hof eine Rosshaar-Sortieranstalt betrieb.
Am 28. Oktober 1938 wurden die Reiters mitten in der Nacht von den Nazis abgeholt und nach Polen gebracht. Vater Isidor Reiter starb dort später in einem Vernichtungslager, seine Kinder überlebten und wanderten aus. Über den Verbleib der Familie Lotrowski ist dagegen nicht viel bekannt. Aktenkundig ist nur, dass Ida Jetty Lotrowski am 21. Januar 1942 abgeholt und nach Riga deportiert wurde. Seitdem gilt sie als verschollen. Die Reiters und die Lotrowskis waren Juden.
Die Tür ohne Haus ist nur ein Provisorium. In der Josephstraße 7 soll demnächst eine Gedenkstätte errichtet werden. Ein Erfolg, der vor allem bürgerschaftlichem Engagement geschuldet ist, denn vor zwei Jahren noch sollte das Grundstück zwangsversteigert werden.
Grundsteuer Am Anfang dieser Geschichte steht ein Brief, der am 10. September 1998 in New York verfasst wurde. Absenderin war Amalia Schinagel, Tochter von Isidor Reiter, adressiert war er an das Leipziger Stadtsteueramt. Darin schreibt sie, dass sie sich weigert, die Grundsteuerschulden für das Haus in der Josephstraße zu zahlen.
Sie erklärt in etwas eingerostetem Deutsch auch, warum: Das Haus habe sich im Oktober 1938, also dem Zeitpunkt ihrer Deportation, in einem sehr guten Zustand befunden. »Die Wohnungen waren vermietet, ebenso die Geschäftsräume.« Die Eltern hätten jeden Monat Geld aus den eingegangenen Mieten erhalten. Als sie jedoch 1991 das Haus zurückerhielten, habe man ihr nicht mitgeteilt, dass die Kommunisten und Nazis das Haus verfallen ließen, sodass sie es als Erben nicht verkaufen konnten, dennoch würden Steuern von ihnen erhoben. »Wo ist die Gerechtigkeit?«, fragte Amalia Schinagel.
Empörung Diesen Brief bekamen einige Bürger aus der direkten Nachbarschaft der Josephstraße 7 in die Hände – und fanden, dass »diese empörende und traurige Geschichte« des Hauses und seiner Bewohner, zu denen auch Amalia Schinagel und ihre Familie gehört, erzählt werden muss. »Wir wollten nicht, dass der Vorgang einfach zu den Akten gelegt wird«, sagt Niko Haubold, der sich auch bei einem weiteren Projekt gegenüber engagiert.
Um die Geschichte des Hauses und vor allem der Bewohner in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, gründeten sie einen Initiativkreis. Das Gebäude war inzwischen aus Sicherheitsgründen abgerissen worden, aufgrund der aufgelaufenen Kosten hatte die Stadt das Grundstück – formal völlig korrekt – zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben. Der Initiativkreis intervenierte und erreichte die Aussetzung der Zwangsversteigerung. Das war 2010.
Inzwischen ist allerhand passiert. Aus dem Initiativkreis ist ein eingetragener Verein geworden, die Mitglieder haben Workshops und Konzerte organisiert und politisch Druck gemacht. Einem Arbeitskreis entstammt auch die Tür, die derzeit das Grundstück ziert. Sie symbolisiert auch die Arbeitsweise des Vereins: Denn sie steht jedem offen, der sich einbringen möchte, um einen lebendigen Gedenkort zu schaffen.
Kontakt Vor allem aber haben die Vereinsmitglieder Kontakt mit den Neffen der inzwischen Verstorbenen Amalia Schinagel sowie Amos und Gideon Reiter, die in Israel und in den USA leben, hergestellt. Die waren von der Idee »einer Gedenkstätte von unten« angetan und bereit, dazu beizutragen. Und auch die Stadt zeigte sich nach anfänglicher Skepsis kooperativ.
So liegt heute eine sogenannte Gestattungsvereinbarung vor. Die besagt, dass die Erben 15 Jahre lang ihr Grundstück für eine öffentliche Nutzung zur Verfügung stellen. Dafür erlässt die Stadt ihnen für diesen Zeitraum die Grundsteuer und setzt ihre bisherigen Forderungen aus.
Der Verein verpflichtet sich seinerseits, das Grundstück zu bewirtschaften. Eine gute Lösung, findet auch Karsten Gerkens, Leiter des zuständigen Amtes für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung. »Wir haben damit eine starre Rechtssituation aufgelöst, die in Ton und Auswirkung nicht zu dem Thema gepasst hat«, sagt Gerkens.
grundlagen Doch so ein Ort des Gedenkens konzipiert sich nicht von alleine. Die Vereinsmitglieder haben angefangen, sich mit Gedenkstättenpädagogik zu befassen, sie haben Experten zu einem Workshop eingeladen, viel gelernt und viel ausprobiert.
Auch mit den Schulen in der Nachbarschaft wurde eine Kooperation angestoßen. Aber: »Wir gehören immer noch nicht zur offiziellen Gedenkstättenszene«, sagt Vereinsmitglied Gerhard Neumcke und klingt ein bisschen stolz dabei. Denn das Unvollkommene, das Selbstgemachte und Provisorische ist es, was dieses Gedenkprojekt von anderen unterscheidet. Und dass es dem Betrachter ermöglicht, einen eigenen Zugang zu finden.
Konzept »Wir haben uns bei der Konzeption vor allem alltägliche Fragen gestellt: ›Wo sind die Familien zum Einkaufen hingegangen, in welcher Schule waren die Kinder?‹ Und: ›Was ist eine Rosshaar-Sortieranstalt?‹«, erzählt Neumcke. Aber auch: »Was haben die Nachbarn gedacht, als die Familien plötzlich verschwunden waren?«
Diese Gedanken spiegeln sich auch in der Gedenkstätte wider, die nun mit 45.000 Euro aus den Fördertöpfen der Stadt entstehen soll. Den laufenden Betrieb will der Verein aus Spenden finanzieren. Das Konzept, das gemeinsam mit einem Büro für Landschaftsgestaltung entwickelt wurde, sieht vor, den Grundriss des Hauses in schwarzem Kies nachzulegen.
Im ehemaligen Hof soll ein Brunnen neu entstehen, umgeben von Sitzsteinen, die zum Verweilen einladen, und Bäumen, die Schatten spenden. »Das soll kein fertiger Ort sein, sondern ein offener Raum, der zum Nachdenken und Mitmachen einlädt«, sagt Neumcke. Im Frühjahr soll mit dem Bau begonnen werden. Die Tür in der Josephstraße 7 steht derweil weiterhin offen.