Am 6. August 1914 rief Kaiser Wilhelm II. in seiner Rede »An das deutsche Volk« die Bürger zu den Waffen. Da war der Krieg im Dreiländereck zwischen Belgien, den Niederlanden und Deutschland bereits angekommen. Zwei Tage zuvor hatten deutsche Soldaten mit ihrem Angriff auf die Stadt Liège begonnen, um der Armee den Weg nach Westen über die Maas zu öffnen. Viele Belgier flohen damals in die neutralen Niederlande, auch den Fluss hinunter in das knapp 30 Kilometer entfernte Maastricht.
Den Menschen aus der Grenzregion, die heute hier durch die weihnachtlich geschmückte Fußgängerzone spazieren, dürfte im Laufe des Jubiläumsjahres der Erste Weltkrieg in den Medien, bei Gedenkveranstaltungen oder in Ausstellungen häufig begegnet sein. Einen besonderen Aspekt beleuchtete nun die Jewish Agency for Israel im Rahmen ihrer »PT Convention«. Das Seminarwochenende in Maastricht stand unter dem Titel: »100 Jahre Erster Weltkrieg – seine Bedeutung für die Juden damals wie heute«.
Das Gedränge vom Weihnachtsmarkt und die Hektik um den Hauptbahnhof auf der anderen Straßenseite scheinen sich im Foyer des Jugendstilhotels nahtlos fortzusetzen. Allerdings nur, weil das Programm gerade durch eine kurze Pause unterbrochen ist und sich die etwa 250 jungen jüdischen Erwachsenen zwischen den Vorträgen noch schnell einen Kaffee ergattern wollen.
Themen Den Teilnehmern, die aus dem gesamten deutschsprachigen Raum nach Maastricht gekommen sind, werden acht Workshop-Blöcke angeboten, außerdem können sie aus elf Vorträgen von Experten wählen: Frederek Musall von der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg spricht beispielsweise zum Thema »›The Spirit of Jewry‹ – Jüdische Intellektuelle und der Krieg«, Oberst Gideon Römer-Hillebrecht über »Das Ende der Integrationsversuche deutscher Juden in die deutsche Gesellschaft über das deutsche Militär« und der Historiker Andrei Zamoiski über »Die Juden der Ostfront – Ein Leben durch die Front getrennt«. Ein strammes Programm.
Aber es geht an diesem Wochenende nicht nur ums Lernen. »Die PT Conventions bestehen aus drei Blöcken«, erklärt Michael Yedovitzky, der die Aktivitäten der Jewish Agency for Israel in Deutschland leitet. »Es geht selbstverständlich darum, akademisch oder semi-akademisch das Thema zu behandeln, das wir gewählt haben. Das geschieht zum einen in Workshops, bei denen die Teilnehmer in kleinen, festen Gruppen mit einem Tutor und einem Madrich arbeiten.«
Networking Das zweite Lernelement sind die Vorträge, bei denen sich die jungen Menschen in immer neuen Gruppen zusammenfinden – und das, erklärt Yedovitzky, leitet auch schon zum nächsten wichtigen Block der PT Convention über: »Das ist ein sozialer Aspekt, Networking ist wichtig.« Um das zu ermöglichen und die Convention nicht einfach zu einem regelmäßigen Klassentreffen werden zu lassen, müssen die Organisatoren eine Auswahl leisten. Etwa 80 Prozent der Besucher jedes Jahr sollten nach Möglichkeit noch keine Convention besucht haben, sagt Yedovitzky. Aber auch einige erfahrenere Teilnehmer sollten dabei sein, »so können wir einen Dialog zwischen den Generationen ermöglichen. 18-Jährige treffen hier auf bis zu 35-Jährige«.
Und noch einen Block enthält die PT Convention, der beim Blick auf das Programm am Freitag deutlich wird: Kerzenzünden, Kabbalat Schabbat, Kiddusch, Paraschat HaSchawua – »es geht natürlich auch um die jüdische Tradition«, betont Yedovitzky. »Nicht alle unserer Teilnehmer sind in ihre Heimatgemeinden involviert, oder sie leben völlig säkular. Und ja, manche feiern hier vielleicht ihren ersten Schabbat. Deshalb ist es wichtig, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, die jüdischen Traditionen kennenzulernen.«
Zum ersten Mal hat sich die PT Convention in Maastricht auch für eine kleine Gruppe von Jugendlichen geöffnet, die noch knapp unter 18 Jahre alt sind. »Wir haben von unseren Geschwistern oder von deren Freunden gehört, wie schön es bei den Conventions ist«, erzählt Edward. »Deshalb wollten wir auch unbedingt dabei sein.«
Das haben der 16-Jährige und seine Freunde aus Halle (Saale) dem Organisationsteam so überzeugend erklärt, dass sie nun tatsächlich teilnehmen dürfen. Die Entscheidung war richtig, freut sich die Tutorin der jüngsten Workshop-Gruppe, Shuli Silber-Lösch. »Es ist die motivierteste Gruppe, die wir hier haben«, erklärt die Wienerin. »Sie stellen intelligente Fragen und haben einen guten Bildungshintergrund.«
Auswahlverfahren Bevor die Jüngsten eingeladen wurden, mussten sie – wie alle anderen Teilnehmer auch – noch eine kleine Hürde überwinden. »Es gab ein Auswahlverfahren, bei dem auch Fachfragen zum Ersten Weltkrieg gestellt wurden«, erzählt Silber-Lösch. Damit wollten die Organisatoren erreichen, dass nur Teilnehmer nach Maastricht reisen, die die nötigen Vorkenntnisse mitbringen, um sich mit dem Thema befassen zu können. »Es ist schon ein großes Pensum, das uns hier angeboten wird«, stimmt die 16-jährige Anastasia zu. »Aber es ist interessant, und in der Schulzeit haben wir nicht so viel zu dem Thema gemacht.«
»Interessant« findet auch Vadim die Angebote zum Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen auf das Judentum. Er liegt eher am anderen Ende der Altersskala unter den Teilnehmern und bekräftigt außerdem einen anderen Aspekt, den Michael Yedovitzky angesprochen hat: »Das Thema ist eigentlich zweitrangig. Ich war letztes Mal schon dabei, als die PT Convention in Warschau war. Das hat mir so gut gefallen, dass ich wieder teilnehmen wollte«, erzählt der Kölner.
Ein anderer junger Mann bestätigt: »Die Freundschaften sind der Grund, aus dem ich hier bin. Und es ist ein gutes Gefühl, wenn man sieht, dass wir alle zusammen eigentlich gar keine kleine jüdische Gemeinde bilden.« Ohne die Convention hätte man sich jedoch nicht getroffen. »Und wenn man sich schon trifft, dann ist es doch schön, wenn das mit einer geistigen Bereicherung einhergeht«, sagt Vadim.
Ziel Genau das ist Ziel der PT Convention, wenn es nach Michael Yedovitzky geht. Das historische und politische Wissen – bei dieser Auflage eben rund um den Ersten Weltkrieg – soll die Teilnehmer bereichern und ihnen auch ein anderes Verständnis der Gegenwart ermöglichen.
»Wir müssen unsere Welt verstehen, genauso wie es auch die Juden vor 100 Jahren mussten. Es geht für uns darum, das ganze Bild zu betrachten und nicht immer nur im Schtetl zu bleiben. Die deutschen Kriegslieder zum Beispiel waren vor 100 Jahren auch die Lieder der jüdischen Soldaten in der Armee«, betont Yedovitzky. »Und noch heute stehen wir vor Herausforderungen, die durch den Ersten Weltkrieg ihren Lauf nahmen. Die Geschichte von Europa ist auch unsere Geschichte. Sie ist bedeutsam für die Suche nach unserer Identität.«