Anrufe bei der Synagoge »Sukkat Schalom« wurden bis vor Kurzem von einem freundlichen Herrn entgegengenommen, der sich bemühte, alle Fragen eloquent zu beantworten und weiterzuhelfen. Doch nun ist diese Stimme verstummt: Liam Reinhard Rickertsen – Liam Amizur ben Arieh, langjähriger Vorsitzender der Gemeinde, ist verstorben. Zu seiner Beerdigung am 2. Januar auf dem Friedhof am Scholzplatz kamen mehr als 70 Freunde und Bekannte. Das Kaddisch sprach Rabbiner Andreas Nachama.
Liam Rickertsen wurde 78 Jahre alt. »Er war ein überzeugter Single, ein Einzelgänger, der allein lebte, aber viele Freundes- und Interessenkreise pflegte«, so der Rabbiner. Aus seinem Schulkollegium blieb so manche Freundschaft erhalten. Auch die Jungen aus der Schrockstraße, wo er aufgewachsen war, mitsamt seinem Cousin Peter Mäckel bildeten eine von ihm bis zum Schluss gepflegte feste Bezugsgruppe, die sich regelmäßig traf. Ferner engagierte er sich ehrenamtlich, beispielsweise als Schöffe im Gerichtssaal; zusätzlich leitete er als Präsident zwölf Jahre lang den Deutschen Verband der Lehrer für Bürowirtschaft (DVLB), dem er seit 1969 angehörte.
Aber mit am wichtigsten dürfte die Synagogengemeinde Sukkat Schalom für ihn gewesen sein. Für drei Legislaturperioden war er Vorsitzender der Gemeinde. »Er wäre auch noch einmal gewählt worden, aber er wollte nicht mehr, weil die Krebserkrankung ihn geschwächt hatte«, sagt Nachama. Er sei ein liebevoller, hilfsbereiter und gründlicher Mensch gewesen.
Bis ins kleinste Detail regelte er alles. Optimierung war immer sein Ziel. Nach den Hohen Feiertagen oder den Kidduschim setzte er sich gern mit anderen zusammen, um zu besprechen, was man hätte besser machen können. Damit nichts in Vergessenheit geriet, schrieb er das Protokoll – und zwar in Kurzschrift, der Stenografie, die er jahrzehntelang unterrichtet hatte. Ende 1968 bekam er eine Anstellung im staatlichen Schuldienst des Landes Berlin und war von dieser Zeit bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2007 als Lehrer für Textverarbeitung, später auch Informations- und Datenverarbeitung in Berlin tätig.
Reisen nach Polen und Israel
Er versuchte, nichts dem Zufall zu überlassen. »Seine ordnende Hand führte Vereinssatzungen oder auch Veranstaltungen von Sukkat Schalom immer behutsam«, erinnert sich Nachama. Auch seine eigene Beerdigung plante Liam Rickertsen.
1946 wurde er in Berlin geboren. Sein leiblicher Vater war ein jüdischer Angehöriger der polnischen Armee. »Seine Mutter hat ihm dies erst eröffnet, als er etwa 15 Jahre alt war. Er begriff diese Mitteilung im Jahr 1961 als zweite Geburt«, so der Rabbiner. Von da an wandte er sich dem Judentum zu, lernte Hebräisch, auch Polnisch. Er war dem Judentum tief verbunden. Reisen nach Polen und Israel waren Liam Rickertsen stets eine Herzensangelegenheit.
Liam Rickertsen hatte stets betont, dass das Judentum, die Gottesdienste in den Synagogen, jüdische Menschen ihn sein ganzes Leben lang begleitet haben. Sein Lebensmotto stammt aus den Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, und lautet: »Wer ist reich? Der, der mit seinem Teil zufrieden ist.«
»Liam ergänzte ihn mit dem Satz«, so Nachama: »Ich hatte bereits ein schönes und reich beschenktes Leben in dieser Welt – wie viel schöner wird es dann noch in meiner Welt sein!« Weiter sagt Rabbiner Andreas Nachama: »So kennen wir Liam: Mit einem feinen Lächeln, leise, bescheiden, aber immer zufrieden.«