Ein Ehrenamt zwischen Krankheit, Tod und Trauer. Gibt es dafür genügend Bereitwillige? »Wir haben keine Probleme, Mitglieder für die Chewra Kadischa zu finden«, sagt sagt Majer Szanckower, der in Frankfurt/ Main nicht nur der Vorsteher aller jüdischen Friedhöfe ist, sondern auch Vorsitzender der dort 1597 gegründeten Chewra Kadischa. Und auch er selbst fühlt sich »sehr wohl« in seinem Beruf: »Ich gehöre zur ersten Nachkriegsgeneration. Daher hat mich das Thema Tod schon mein Leben lang begleitet.«
Szanckower ist über die Rufnummer der Friedhofsverwaltung rund um die Uhr erreichbar. »Wer uns anruft, muss danach eigentlich nichts mehr tun.« Doch nachts muss er selten raus. Denn »heutzutage sterben die meisten Menschen im Krankenhaus«, berichtet er, und dann könnten sie ohnehin nicht abgeholt werden, »weil die Krankenhausverwaltung nachts geschlossen ist und der Papierkram deshalb nicht erledigt werden kann«. Also überführt die Chewra Kadischa den Toten erst am nächsten Morgen zum jüdischen Friedhof.
anleitung Dort wird er im Bet Tahara, dem Haus der Reinigung, von Frauen oder Männern der Beerdigungsbruderschaft (je nach Geschlecht des Verstorbenen) gewaschen. »Du sollst gereinigt vor dem Herrn erscheinen« – eine Inschrift mit diesem abgewandelten Psalmzitat hat Szanckower erst vor einigen Jahren auf einem historischen Foto des Frankfurter Reinigungshauses wiederentdeckt. Er hat die hebräischen Schriftzeichen dem Original entsprechend in Israel herstellen lassen und wieder im Frankfurter Bet Tahara angebracht.
Die Chewra Kadischa und die Friedhofsverwaltung stehen auch bereit, um den Angehörigen den Ablauf der Bestattung zu erklären. »Es kommt sehr oft vor, dass Angehörige sterben und die Familie von den Beerdigungsriten überhaupt keine Ahnung hat«, sagt Szanckower. Gemeinsam mit dem Rabbinat hat er deshalb eine kurze Anleitung verfasst, die alle Rituale, Gebete und Traditionen zum Inhalt hat – und das auf Deutsch und Russisch.
Durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion hat sich auch das Aussehen der jüdischen Friedhöfe in Deutschland verändert. Waren sie über viele Hunderte Jahre klassisch geprägt von nahezu gleich gestalteten Steinen, finden sich selbst auf dem historischen Friedhof in Berlin-Weißensee heute Gräber mit Blumenschmuck. Die herkömmliche Stille Ort der Aschkenasim (deutschstämmige und osteuropäische Juden) kennt aufrechtstehende Steine. Die Sefardim (portugiesische und spanische Juden) bestatten ihre Toten unter flachliegenden Grabplatten oder in Zeltgräbern.
Einfachheit Die Zuwanderer mussten auch beim Bestattungsritus vieles neu lernen. Für gewöhnlich favorisiert der Mensch ein furioses Finale. Wer sich jedoch nach jüdischem Ritus beerdigen lässt, muss auf den pompösen Abgang verzichten. Denn die Juden tragen ihre Toten reichlich unspektakulär zu Grabe: Der Verstorbene wird gewaschen, in sein Totenhemd gekleidet, Männer werden zusätzlich in ihren Tallit, den Gebetsschal, gehüllt, in einen einfachen Holzsarg gelegt und, wenn irgend möglich, spätestens 24 Stunden nach Eintritt des Todes beerdigt.
Dieses schnelle und unprätentiöse Prozedere hat Tradition und Methode: Seit rund 2.000 Jahren herrscht bei den Juden das Gebot der schlichten Beerdigung. Protzige Grabfeiern, bei denen die Hinterbliebenen ihren materiellen Reichtum unverblümt zur Schau stellen konnten, sind seit- her verpönt. Dank der religiösen Egalität müssen sich auch in Armut Lebende nicht schämen, wenn sie ihre Angehörigen zu Grabe tragen: Vor Gott und im Tod sind alle gleich.
Dafür, dass alle Sterbenden und Verstorbenen genau gleich behandelt werden, sorgt seit der frühen Neuzeit die Chewra Kadischa, die »Heilige Beerdigungsbruderschaft und Verein für jegliche Wohltätigkeit«. Ihre Arbeit ist ehrenamtlich, die Vereinigung selbst wird durch Spenden finanziert. Und sie befreit alle Angehörigen von der Last, in ihrer Trauer auch noch eine Beerdigung organisieren zu müssen.
Die Rigorosität der Vorschriften stößt bei den Hinterbliebenen jedoch nicht immer auf Verständnis: »Wir verstehen uns in Frankfurt als konservative und orthodoxe Gemeinde. Deshalb beerdigen wir niemanden in seinem Anzug, niemanden mit Gebiss, und auch die Lieblingsdecke darf nicht mit in den Sarg«, bleibt Szanckower kategorisch und legt sogar noch nach: Weder zur Trauerfeier noch zur Beerdigung ist Blumenschmuck erwünscht, Kränze sind sogar verboten.
Vergängnis »Blumen sind ein Zeichen des Vergehens«, erklärt der Friedhofschef. »Wir Juden aber glauben, dass die Seele ewig lebt.« Auf einen Kompromiss hat sich die Friedhofsverwaltung mittlerweile allerdings eingelassen: Trauernde können Blumen abgeben – »und wir legen sie dann nach der Trauerfeier und Beerdigung aufs Grab«, sagt Szanckower.
Auch in der Jüdischen Gemeinde von Darmstadt achtet und wahrt man die Traditionen. »Eine Dame wollte in ihrem Hochzeitskleid beerdigt werden«, erinnert sich Daniel Neumann, Geschäftsführer der Gemeinde, »das konnten wir nicht zulassen.« Wie Szanckower findet auch er Blumen als Grabschmuck »nicht schön«, aber man gehe damit »nicht mehr ganz so rabiat um wie früher«.
Die Darmstädter haben keine eigene Chewra Kadischa, sondern nutzen die des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen. Anders ist es 200 Kilometer weiter im Norden: Kassel hat wie Frankfurt eine eigene Bruderschaft, die vom Rabbiner ausgebildet wurde. »Das hat vor allem praktische Gründe: Wenn wir die Heilige Bruderschaft des Landesverbandes nähmen, müssten wir jedes Mal Fahrgeld bezahlen«, erklärt Esther Haß vom Vorstand der Gemeinde in Kassel.
Was passiert aber, wenn verschiedenreligiöse Ehepartner gemeinsam beerdigt werden wollen? »Wer auf dem jüdischen Friedhof liegen will, muss sich schon zu Lebzeiten Gedanken darüber machen und übertreten«, gibt sich Daniel Neumann aus Darmstadt streng. In Frankfurt indes hat man – typisch jüdisch? – eine pragmatische Lösung für dieses Dilemma gefunden: So gibt es auf dem jüdischen Friedhof seit gut einem Jahrzehnt zwei benachbarte Gräberfelder, die nur von einem Weg und einer Hecke voneinander getrennt sind. Auf der einen Seite wird nach jüdischem Ritus beerdigt. »Die andere Seite geht uns nichts an, da kann sich jeder nach eigenem Gusto bestatten lassen«, sagt Szanckower.
Interreligiös »Es gibt nun einmal zunehmend Mischehen, und so müssen die Kinder nicht auf zwei verschiedene Friedhöfe gehen, wenn sie ihre Eltern besuchen wollen«, begründet er diesen Tribut an die moderne, auch in Religionsfragen durchlässiger gewordene Gesellschaft.
Nach der Beerdigung gibt es im jüdischen Ritus, anders als bei Christen, keinen »Leichenschmaus«. Stattdessen bereiten Freunde und Nachbarn eine Mahlzeit für die Trauernden vor. Auch in der Schiwa, der sieben Tage währenden Trauerwoche, werden die Angehörigen von Freunden und Verwandten mit Essen versorgt. Gemeindemitglieder kommen, um mit ihnen das Kaddisch zu beten. Die Chewra Kadischa kümmert sich darum, dass immer die hierfür notwenige Mindestzahl von zehn Männern gestellt wird.