Umfrage

Tradition der Trauer

Rote Rosen: Auf dem Joseph-Carlebach-Platz in Hamburg stand bis 1939 die größte Synagoge Hamburgs. Foto: dpa

Kein Paukenschlag. Nein.» Das fände sie makaber, sagt die Mitarbeiterin der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, die nicht mit Namen genannt werden möchte. Denn die Erinnerung feiere kein Jubiläum. Zwar jährt sich in diesem Jahr das Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome von 1938 zum 75. Mal, aber in vielen Städten scheint diese besondere Zahl kein Anlass dafür zu sein, diesen Tag größer, anders oder intensiver als in den Jahren zuvor zu begehen.

Tradition Vielleicht ist nur der Zeitplan ein anderer als sonst, weil der 9. November dieses Mal auf einen Schabbat fällt. Ansonsten wird, wie sich in einer Umfrage in etlichen Gemeinden innerhalb Deutschlands gezeigt hat, an diesem Tag auf bereits etablierte Abläufe und Rituale zurückgegriffen. «Das ist eine gewachsene Tradition», sagt etwa Andreas Determann, Geschäftsführer der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Münster. «Wir richten die Gedenkstunde seit Jahrzehnten in enger Absprache mit der hiesigen Kultusgemeinde aus. Und das ist auch 2013 nicht anders.»

«Wichtig ist allein, dass sie alle kommen», sagt die Vertreterin der Frankfurter Gemeindeverwaltung. Bisher war das immer so, auch wenn die Gruppe der Überlebenden immer kleiner wird und sich im Laufe der Zeit vielleicht auch eine Spur Routine in die Erinnerung gemischt hat. So wird in Frankfurt am 10. November, wie bereits seit vielen Jahren, sowohl in der Westendsynagoge als auch in der Paulskirche eine Gedenkstunde abgehalten. Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) wird an beiden Veranstaltungen teilnehmen.

«Stünde die neue hessische Landesregierung schon und gäbe es bereits einen neuen Ministerpräsidenten, der kommen und eine Rede halten würde, dann wäre die Synagoge bestimmt noch voller als sonst», schätzt ein Gemeindemitglied. So aber ist es an dem noch amtierenden hessischen Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP), als Vertreter des Landes in der Synagoge zu sprechen.

Ausstellung Das Jüdische Museum Frankfurt hingegen nimmt den 75. Jahrestag der Novemberpogrome tatsächlich zum Anlass für eine Ausstellung: «Das Jahr 1938: Kunstleben im Nationalsozialismus» ist der Titel der Schau, die am 27. November eröffnet wird.

Stolpersteine An vielen Orten werden in den nächsten Tagen außerdem die Stolpersteine poliert oder Kerzen neben ihnen auf der Straße aufgestellt. In Bad Homburg im Hochtaunus versammelte man sich bereits am 6. November vor dem Denkmal für die ehemalige, zerstörte Synagoge der Stadt. «Von dort ging es dann gemeinsam zum Bahnhof, um den Weg der für die Deportation bestimmten Juden nachzuvollziehen», erzählt der Vorsitzende der Initiative Jüdisches Leben in Bad Homburg, Imrich Donath. Dort, an der Fassade des Bahnhofsgebäudes, wurde dann eine Gedenktafel enthüllt, mit der an die Opfer der Verschleppung und Ermordung erinnert werden soll.

Dass diese feierliche Enthüllung ausgerechnet um den 75. Jahrestag der Novemberpogrome, die in der Geschichtsforschung als Beginn der systematischen Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in Deutschland gelten, fällt, liegt aber nicht unbedingt in der Absicht der Organisatoren. Denn eigentlich sollte die Tafel bereits vor etwa anderthalb Jahren angebracht werden, aber wegen aufwendiger Renovierungsarbeiten am Bad Homburger Bahnhofsgebäude war das bislang noch nicht möglich.

Jugend Gleichwohl glaubt Margret Nebo, Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hochtaunus und seit vielen Jahren mitverantwortlich für die Organisation der Veranstaltungen rund um das Gedenken am 9. November, dass «neue, andere Formen des Gedenkens gefunden werden müssen». Denn: «Wir erreichen die jungen Menschen nicht», hat sie beobachtet.

«Jedes Jahr die gleichen Klischees», sagt auch Wadim Laiter, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Magdeburg. «Wir vergießen ein paar Tränen, wir legen Blumen ab, und dann läuft alles weiter wie bisher.» Für die jüdischen Opfer beweise man viel Anteilnahme, vor allem aufseiten der Politik und der Kirchen, für die lebendigen Juden in der Stadt interessierten sich hingegen nur wenige Magdeburger: Die Bevölkerung kenne die «schwarzen Daten»: den 9. November und außerdem den 29. Januar, an dem an die Deportation zahlreicher Juden aus der Stadt erinnert würde: «Aber uns kennt man nicht.» Schuldgefühle, so ist Laiter überzeugt, können eben nicht die Grundlage für ein gelungenes Zusammenleben bilden.

Selbstvertrauen «Was die Leute verkennen, ist, dass wir 1938 nicht nur unsere Synagogen, sondern auch unser Selbstvertrauen verloren haben.» Beides haben sie in Magdeburg bis heute nicht zurückbekommen. «Wir möchten ein gleichberechtigter Teil dieser Stadtgesellschaft werden», fordert Laiter. Seine Vision: «Eine neue Synagoge in Magdeburg, die von allen Teilen der Bevölkerung als Wahrzeichen dieser Stadt gewünscht wird.»

Jedes Jahr das Gleiche? Auch in Dresden wird man am 8. November der «Opfer der Pogromnacht» gedenken, «mit einem Grußwort der Oberbürgermeisterin Helma Orosz anlässlich des 75. Jahrestages», wie es in der Ankündigung der städtischen Pressestelle heißt. Auch die Vorsitzende der ansässigen Jüdischen Gemeinde, Nora Goldenbogen, wird sprechen. Wie in jedem Jahr, so versichert man in der Gemeindeverwaltung, sei die Ausgestaltung der Gedenkfeier in enger Absprache mit dem Büro der Oberbürgermeisterin geplant: «Wir können uns nicht beschweren», heißt es dazu.

Radtour Man kann es in Dresden mit dem Gedenken allerdings auch sportlich nehmen, auf einer Fahrradtour am kommenden Sonntag. «Alles anders? Leben nach dem politischen Machtwechsel 1933» ist das Thema dieses Ausflugs auf dem Rad. Während dieser Tour werden «Orte jüdischen Lebens und Leidens» in Dresden angesteuert, verspricht das Programm.

Das nördlichste jüdische Museum in Deutschland, das Dr.-Bamberger-Haus in Rendsburg, hat der Erinnerung an die Novemberpogrome von 1938 ebenfalls eine Veranstaltung gewidmet. Deren Titel, ob beabsichtigt oder nicht, liest sich wie ein Kommentar zu all den polierten Stolpersteinen, brennenden Kerzen, abgelegten Kränzen, Ansprachen, Mahnwachen, Filmvorführungen, Fahrradtouren und Lesungen: «Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung – der 9. November» ist der für kommenden Dienstag angekündigte Vortrag überschrieben.

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