Die Tante pflegte die Männer in die Synagoge zu schicken und mir währenddessen zu zeigen, wie man Huhn in Weißwein und eingelegter Zitrone aus dem Federtier kochte, das im Nachbarhof aufgewachsen war.» So erinnert sich Aviv Koriat an seine Tante Sol aus dem Kibbuz. «Ich erlebte den ganzen Vorgang: vom Rupfen der Federn über das Schmelzen der Gewürze in der Bain-Marie bis zum Kombinieren der Olivensorten, die verschiedene Nuancen von der Salzigkeit und Bitterkeit in das nussige Hühnerfleisch brachten.» Er war damals ein kleiner Junge und saß auf dem Tisch , damit er auch alles gut überblicken konnte und Tante Sol einen Gesprächspartner hatte.
Aviv Koriat wurde 1961 geboren und wuchs im nördlichen Jordantal auf. An jene Zeit im Kibbuz erinnert er sich gerne. Für seine Eltern war es die Zeit des Aufbaus einer neuen Gesellschaft und eines kargen Stückes Land. Für ihn war es, dank Tante Sol, auch eine Zeit voller sinnlicher Genüsse, Düfte, Eindrücke und Kochgeheimnisse. «Eine Erinnerung an Großzügigkeit und Liebe», wie er sagt.
kibbuzim Es waren die 60er- und 70er-Jahre, die Kibbuzbewegung in Israel war auf Selbstversorgung und ein arbeitsreiches Leben ausgerichtet, weniger auf sinnliche Genüsse. Lebensmittel waren schlicht Mittel zum Leben und nicht verführerische Delikatessen. «Unser Kibbuz», sagt Aviv Koriat, «war sozialistisch geprägt. Die Arbeit stand im Mittelpunkt. Und das hat auch niemanden gestört. Man fand tiefe Erfüllung in dieser Lebensweise.»
Seine Familie stammt zur einen Hälfte aus Marokko, zur anderen aus Europa, erzählt Koriat, aus Polen und Rumänien. «Im Kibbuz kamen wir Kinder damals ins Kinderhaus, die Eltern gingen arbeiten, deshalb war der Nachmittag immer sehr wichtig für die Familien. Es war die einzige Zeit zum Kuchen rühren, Marmelade machen, Kekse backen mit den Kindern. Das war wirklich etwas Besonderes. Ich habe viel Freude mit meinen Eltern gehabt, und ich habe viel gelernt damals als Kind.»
Dass er irgendwann sein Glück als Konditor finden würde, hatte er nicht geplant. Er ging zur Armee, studierte Produktdesign, lebte in Jerusalem, New York, gründete in Tel Aviv eine Firma. Ein Leben, wie er rückblickend sagt, zwischen Bürowänden, Sitzungen, Mitarbeitern, seinem Laptop und der Jagd nach immer neuen Ideen. Das Leben am Strand von Tel Aviv war nur Schritte entfernt, und doch schienen ihn Meilen von dieser Freiheit zu trennen.
Heute ist Koriat dankbar für die Veränderung. Denn kurzerhand hatte er beschlossen, sein altes Leben hinter sich zu lassen und seiner Partnerin nach Berlin zu folgen. «Es war 2004, und ich hatte vor, zwei Wochen zu bleiben. Ich war erst skeptisch, ob es mir wirklich gefallen würde, denn ich erinnerte mich an meine erste Lehrerin im Kibbuz und an ihre Geschichten vom Holocaust. Es waren schlimme Geschichten.»
Koriat nimmt die Brille ab und wird ernst. «Da stand ich also zum ersten Mal in Deutschland, habe mit den Menschen gesprochen, vor allem mit den jungen Leuten, und gedacht: Die sind genauso traumatisiert wie ich! Ich habe damals viele Bücher gelesen, wollte unbedingt mehr wissen, mehr lernen über den Holocaust und was er für die Deutschen bedeutet.» Einen Moment lang wird er leise und nachdenklich: «I could not forget – but forgive!», ich kann nicht vergessen, aber vergeben. Er beschloss, noch eine Weile länger in Deutschland zu bleiben.
caterer Irgendwann sprach ihn eine Freundin an, ob er nicht ihr Geburtstagscatering übernehmen könne. Konnte er! Und es war der Beginn einer neuen Karriere. Denn schnell sprach sich herum, dass Aviv Koriat nicht nur gut kochen, sondern vor allem gut backen konnte.
Es war für ihn eine neue Welt, die sich auftat, die Welt seiner Erinnerungen an Backkünste, Düfte und den Geschmack der Kindheit. Und an jene Geheimnisse seiner Tante Sol, an orientalische Orangen, das Zubereiten von Konfitüre, den sinnlichen Duft frischer Vanille, an Kardamomschoten und frischen Pfeffer, an Feigen, Aprikosen, Kokos und Koriander.
Koriat kreierte Rezepte, nutzte das, was er einst im Kibbuz gelernt hatte, und probierte tagelang die richtige Konsistenz seines Schokoladenkuchens aus. Er gründete einen ersten kleinen Laden in Berlin-Neukölln, eine Mini-Konditorei, und versuchte, mit seiner Kunst Geld zu verdienen.
Experiment Heute muss er lächeln, denn das erste Experiment verlief nicht so, wie er wollte. Zudem führte ihn sein Weg recht bald nach Weimar. Seine deutsche Partnerin bekam eine Professur an der Bauhaus-Universität, und Koriat spielte mit dem Gedanken, dort einen kleinen Laden zu eröffnen. «Zwei Jahre habe ich gesucht, bin immer wieder durch die Stadt gegangen und war kurz davor aufzugeben. Sprichwörtlich am letzten Tag fand ich diesen hier.»
Koriat zeigt auf seine gemütliche, kleine Backmanufaktur. Es war damals ein verlassener alter Blumenladen mit DDR-Charme, alter Einrichtung, großem Schaufenster und einem Blick auf Ginkgobäume vor dem Fenster und die imposante katholische Kirche der Stadt – erbaut nach dem Vorbild des Doms von Florenz. Genau hier wollte er bleiben! Vor dem Laden parken Busse, nebenan ist eine Apotheke. Das war’s. Keine Einkaufspassagen, keine Flaniergegend, keine Touristenströme. Aviv wagte den Neubeginn.
Er blickt von der kleinen Backstube zum Schaufenster. Dort liegen jetzt bunte Kissen, kleine Tische stehen innen und bei gutem Wetter auch vor dem Fenster auf dem schmalen Gehweg. Manches Teil des Interieurs hat er erhalten. Warum auch nicht? Genau das macht den Charme seines kleinen Ladens aus. Kochbücher und Backbücher in englischer und hebräischer Sprache stapeln sich in einem Regal.
Der Duft seiner Kuchen und Tartes strömt verführerisch in allen Nuancen. Die Koriat-Kuchenmanufaktur ist längst etabliert. Und Weimar? Aviv Koriat zieht die Stirn kraus. Eine jüdische Gemeinde gibt es hier nicht, hin und wieder kommen Studenten oder Professoren hierher, weil sie wissen, dass hier ein Israeli etwas Schönes macht. «Keine Frage, ich bin Jude, aber die ›Menschenfrage‹ kommt bei mir noch vor der Religion.» Das sei jene, die unabhängig von Kultur, Herkunft und Religion existiere, jene, die nach Moral und dem eigenen Selbst frage und nicht: Wo betest du?
«Wenn ich in die Bäckerei komme», so Koriat, «sage ich: ›Danke, dass ich hier sein und backen darf!‹ Das soll nicht arrogant klingen, denn am Ende gehört dir nichts. Du musst lernen, dass du Gast bist auf der Welt. Darin sind wir alle gleich. Egal, was wir machen. Egal, wer wir sind. Wir alle arbeiten, können dankbar sein – und auch in der Arbeit etwas Spirituelles finden.»
buchenwald Er erzählt von einem Verwandten, der ihn einst in Weimar besuchte und das ehemalige KZ Buchenwald sehen wollte. «Ich ging nicht mit und hatte damals schon immer einen großen Bogen darum gemacht. Sollte ich nun endlich auch gehen? Oder besser doch nicht?» Der Verwandte kam sehr bewegt von seinem Besuch auf dem Ettersberg zurück. «Er sagte zu mir: ›Aviv, bitte geh’ nicht hin!‹ Er war tief betroffen.»
Aviv blickt auf die Uhr, der nächste Mürbeteig ist durch und muss zum Abkühlen ins Regal. Ob Kuchenbacken irgendwann langweilig wird? Koriat schüttelt den Kopf, nein, nein, niemals. Was nütze es, wenn Konditoren technisch perfekt sind, aber wenig Gefühl für das haben, was sie machen, entgegnet er. «Wenn ich Mitarbeiter einstelle, so schaue ich, ob auch sie eine tiefe Verbindung haben zu dem, was Kuchen bedeuten kann.»
Wenn er heute in Ringelshirt und legerer Hose in seiner Backstube werkelt, begegnen ihm alle Generationen. Durch das Regal, in dem die Böden auskühlen, sieht er die Kundschaft im Laden. Ab zehn Uhr ist geöffnet, und an manchen Tagen ist nachmittags schon alles verkauft. Einige Cafés ordern seine Kuchen. Doch Koriat denkt nicht ans Expandieren. «Dann habe ich keinen Überblick mehr über die Qualität.»
Produkt-Design Seine Rezepte und seine Geschichten hat er nun in einem Buch erstmals veröffentlicht, ein charmantes Bändchen mit Schwarz-Weiß-Illustrationen – natürlich aus seiner Hand. Denn so ganz kann auch er sich nicht vom Produktdesign verabschieden. Er erzählt darin von seiner Tante Sol, von Lkw-Fahrern, die den Kibbuz belieferten, vom kleinen Petroleumkocher, der Gaumenfreuden in das oft kulinarisch karge Kibbuzleben brachte, und von jüdischen Festen, von Ritualen, aber auch von dramatischen Erinnerungen aus der Kriegszeit im Jahr 1973. Ein Buch über das Backen und das Leben, über die schönsten Kuchenrezepte und die schmackhaftesten Geheimnisse seines Konditorlebens.
Sein Alltag findet heute zwischen Backblechen und Büchern statt. Oftmals steht er schon früh um vier Uhr in der kleinen Manufaktur, rührt Konfitüre, Früchte und Gewürze, rollt einen Teigfladen nach dem anderen aus. Das meiste geschieht mit der Hand. Konzentriert und mit größter Sorgfalt gleitet die Holzrolle immer wieder über ein Teigstück und wird mit Mehl bestäubt, um dann schwungvoll in einer runden Kuchenform zu landen, wo der Rand vorsichtig angedrückt wird.
Wie viele Kuchenteigfladen Aviv Koriat pro Tag ausrollt? Er weiß es nicht und lacht. Stück für Stück entstehen Mandarinen-, Bananen-Apfel-, zitroniger Mohnkuchen und alle Varianten von Tartes. Routiniert geht es zu. «Der Laden hier hat eine Seele. Ich mag die Stimmung, auch am Sonntagmorgen, wenn die Kunden nach der Kirche hier bei mir ihren Kuchen kaufen. Ich hab’ mich sofort in den Ort verliebt.» Und der Ort vermutlich auch in ihn.
orangen Im schmalen Raum neben der Backstube stapeln sich Früchte: Pfirsiche, Blaubeeren und Birnen; daneben Nüsse, Karamellkrumen, Schokoladenraspel und Vanille. Der Lieblingskuchen aller ist jener, der dem Buch nun einen Namen gab: Orientalische Orangen – eine Hommage an die fantastische Tante Sol.
«Backen ist nicht irgendetwas, du gibst immer auch deine Seele hinein», sagt Aviv Koriat. «Neben den Zutaten sind es Erinnerungen, bei mir zum Beispiel auch an eine 90-jährige Frau, die mir von ihrem Leben erzählte. Wo sie einst zu Hause war, wie sie nach Israel kam, was in ihrem Leben alles passiert war und wie sie immer wieder vom Backen und über Rezepte sprach.»
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Auch er findet Erfüllung in dem, was er macht. Er formt die schönsten Tartes und Kuchen, mischt mit Gefühl die Aromen seiner Backkunst und die der Erinnerung. «Wenn ich heute backe, so kommen auch meine Gedanken zurück», erzählt er. Er erinnert sich, woher seine Rezepte stammen. «Von deutschen, polnischen, russischen, marokkanischen, ägyptischen und südamerikanischen Frauen», sagt er. «Im Prinzip ist das alles richtig emotional.»
Orientalische Orange
Zutaten:
3 Orangen
200 g frischer Orangensaft
100 g Zucker
1 Zitrone
3 Kardamomschoten
1 Zimtstange
5 Pfefferkörner
Zubereitung der Zitrus-Konfitüre:
Orangen gründlich waschen und in möglichst kleine Würfel schneiden – Würfel in Orangensaft, zusammen mit Zucker, dem Saft und Abrieb einer Zitrone und einem Würzbeutelchen mit aufgebrochenen Kardamomschoten, Zimtstange und Pfefferkörnern (wenn gewünscht) zum Kochen bringen – auf kleinster Flamme fast vollständig zugedeckt circa eine Stunde köcheln lassen, bis die Sauce angedickt und das Obst weich ist – den Gewürzbeutel entfernen.
Die Konfitüre für den Kuchen lauwarm verwenden (die Menge reicht für drei Kuchen).