Ich bin ledig und lebe mit meiner Familie zusammen in Wuppertal. Dort haben wir seit unserer Ankunft in Deutschland unser Zuhause. Gekommen sind wir vor zwölf Jahren aus der Ukraine. Als wir emigrierten, war ich 16. Schon bevor wir hierherkamen, begann ich, Deutsch zu lernen. Acht Monate lang hatte ich Unterricht bei einem Privatlehrer. Besonders gut konnte ich die Sprache trotzdem nicht. Als ich hier in die Schule kam, bin ich um eine Klasse zurückgestuft worden.
Ich habe in Wuppertal studiert und promoviere zurzeit am Lehrstuhl für Automatisierungstechnik/Informatik. Forschung und Vorlesungen sind meine Hauptaufgaben als Doktorand, und deswegen habe ich zwei Arbeitsplätze an der Uni: einen im Büro und einen im Labor.
Dort arbeite ich am liebsten, da bin ich unter Menschen. Anders als im Büro, ist im Labor immer etwas los. Ich fühle mich dort als Teil eines Projekts, und das erhöht den Teamgeist und steigert meine Motivation. Mein Forschungsthema ist »Network on chip«. Ich gehe unter anderem der Frage nach, wie man verschiedene Komponenten in einem Chip verbinden kann.
Sprechzeiten Als Doktorand bereite ich für meinen Professor die Vorlesungen vor. Auch für praktische Übungen der Studierenden bin ich zuständig und betreue sie, gebe Themen für Bachelor- und Masterarbeiten vor. Feste Sprechzeiten habe ich nicht. Ich finde es praktischer, für die Studierenden da zu sein, wenn sie mich brauchen. Sie können mich jederzeit ansprechen, wenn sie Probleme haben, ich gehe aber auch auf sie zu und frage, wie sie vorankommen.
Dass ich jüdisch bin, erzähle ich an der Uni nicht. Mein Chef weiß es, und ein paar andere auch. Ich trage auf dem Campus auch keine Kippa, sondern ein Käppi. Im öffentlichen Raum Kippa zu tragen, kann gefährlich sein. Es gibt an der Uni viele Araber. Durchaus möglich, dass unter den muslimischen Studierenden manch einer antisemitisch ist.
Schon in der Ukraine ging ich in die jüdische Schule, hatte also Wissen über das Judentum, aber ich habe dort nicht so sehr nach den Geboten gelebt. Als ich nach Deutschland kam, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es ausgerechnet hier möglich sein würde, den Schabbat zu halten und koscher zu essen. Ehrlich gesagt, hatte ich gedacht, dass es hier viel mehr Probleme machen würde, religiös zu leben, aber das stimmt nicht. Erst hier habe ich die Möglichkeit bekommen, ein religiöses Leben zu führen.
In der ersten Zeit nach unserer Ankunft war ich allerdings mit ganz anderen Sachen beschäftigt. Ich musste ja die Sprache lernen und mich an das neue Leben gewöhnen. Ich habe dann sehr viel im Internet nachgeschaut, eine Menge Bücher gelesen und mich mit Freunden ausgetauscht. Schließlich habe ich unseren Rabbiner kennengelernt und über ihn mitbekommen, dass man das Judentum hier leben kann. Ich weiß aber nicht, ob ich langfristig in Deutschland bleiben möchte. Ich überlege, nach Israel auszuwandern, weil man dort viel mehr jüdisches Leben hat.
Gebet Mein Tag beginnt mit dem Morgengebet. Gegen zehn fange ich mit der Arbeit an. Eine Stunde dauert die Fahrt zum Campus Freudenberg, wir wohnen nämlich am Stadtrand von Wuppertal.
Einen festen Termin habe ich derzeit nur montagabends. Nach der Arbeit fahre ich direkt zu unserem Rabbiner. Wir treffen uns bei ihm zu Hause zum Talmud-Unterricht. Ich lerne mit etwa zehn anderen Leuten zusammen. Natürlich versuche ich auch an anderen Tagen selbst etwas zu lernen und verabrede mich auch mal mit Freunden zum Studium.
Früher hatte ich mittwochs einen weiteren Termin: die Ivrit-Gruppe. Doch die hat sich vor Kurzem aufgelöst – sehr schade! Für mich ist es eine Form von Entspannung, Tora und Talmud zu lernen. Ich entspanne mich aber auch, wenn ich mit meinen Freunden zusammen bin.
mutter Normalerweise essen meine Mutter und ich zusammen, wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme. Wir erzählen uns, was uns den Tag über beschäftigt hat, teilen uns die neuesten Nachrichten mit und sprechen über Politik – vor allem die Ereignisse in Israel und der arabischen Welt sind unser Thema. Wir tauschen uns auch über unsere Gedanken zu Büchern aus, die wir gerade lesen. Ich habe einen engen Kontakt zu meiner Mutter. Ein gutes Verhältnis zu ihr ist mir sehr wichtig. Sie ist Rentnerin. Ich bin für sie auch ein wichtiger Bezugspunkt, denn mein Vater ist vor fünf Jahren leider gestorben.
Freitags höre ich mit der Arbeit früher auf als sonst, zumindest im Winter, weil der Schabbat dann recht früh beginnt. Im Sommer gibt es das Problem nicht. Wegen des Morgengebets, das ja bei Sonnenaufgang zu verrichten ist, kann ich freitags nicht viel früher zur Arbeit kommen. Also hole ich die Stunden, die ich am Freitag hätte arbeiten müssen, am Sonntag zu Hause nach. Beispielsweise schreibe ich dort an einer Publikation, die ich derzeit vorbereite.
Den Schabbat versuche ich daheim zu verbringen und lade häufig Gäste ein. Ab und zu kommen an den Wochenenden Freunde als Übernachtungsgäste zu mir. Hin und wieder fahre ich auch zu Seminaren. Zuletzt war ich auf einem Schabbaton in Frankfurt.
Ich verbringe meine Zeit nicht gern mit Unnützem. Dazu gehört beispielsweise das Fernsehen. Ich schaue mir die Nachrichten an, mehr nicht. Ganz selten gucke ich auch etwas anderes. Wenn ich mich informieren will, gehe ich lieber ins Internet.
Science Fiction Meist lerne ich auch noch abends aus den religiösen Büchern. Zudem versuche ich, immer noch ein weiteres Buch zu lesen. Zuletzt war es ein Science-Fiction-Roman auf Russisch. Auf Deutsch lese ich eigentlich gar keine Literatur. Ich fühle die Sprache leider nicht. Deutsch ist ja nicht meine Muttersprache, und wenn ich Romane auf Deutsch lese, dann durchdringt mich das gefühlsmäßig nicht.
Wenn ich nicht arbeite, lerne oder lese, versuche ich, mich zu bewegen. Ich laufe regelmäßig. Meine Strecke ist ungefähr fünf Kilometer lang. Meist laufe ich abends. Auch im Winter. Das Gute am Laufen ist, dass man es fast überall machen kann und keine festen Termine dafür braucht. An Wochenenden gehe ich zudem mit meiner Mutter bei uns im Viertel spazieren.
Einen Teil meiner Freizeit nimmt der Verband in Anspruch, den einige jüdische Kommilitonen und ich vor ein paar Monaten gegründet haben. Jüdischer Wuppertaler Studentenverband, so der Name unserer Gruppe. Meist treffen wir uns spontan abends in einem Café und tauschen uns darüber aus, welche Projekte wir umsetzen könnten. Zuletzt haben wir einen Schabbaton organisiert. Auch für die nächste Zeit haben wir ein paar gute Ideen für weitere Veranstaltungen. Was genau, wird nicht verraten! Und wir planen, eine jüdische Zeitschrift herauszubringen. Mal schauen, was daraus wird.
Aufgezeichnet von Canan Topçu