Als ich drei war, lernte ich Schwäbisch. »Häscht doi Veschpertäschle vergesse?«, fragte die Erzieherin im Kindergarten, als sie bemerkte, dass ich kein zweites Frühstück dabeihatte. Ich verstand sie nicht, doch das änderte sich schnell – und heute kann ich weit mehr als nur a bissle Schwäbisch schwätze. Mein Vater – er ist Mathematiker – war damals auf eine Professur nach Tübingen berufen worden, und so verließen wir Essen, die Stadt, in der ich 1993 geboren wurde.
Erinnern kann ich mich an die ersten Wochen in Tübingen natürlich nicht, ich war zu klein. Tübingen ist eine sehr schöne Stadt, sie ist mein Zuhause geworden, hier fühle ich mich wohl, hier habe ich mein Bachelor-Studium gemacht, und hier bin ich zur Schule gegangen.
RELIGIONSUNTERRICHT Als ich 1999 eingeschult wurde, trat die Religion ins Leben meiner Familie. Ja, man kann es so pathetisch sagen, denn mit der Schule kam der Religionsunterricht, meine Eltern wurden also mit dem Judentum konfrontiert. Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen, waren 1991 aus Moskau nach Deutschland gekommen, und wie die meisten der sogenannten Kontingentflüchtlinge hatten sie keinen Bezug zur Religion. Sie wussten zwar, dass sie Juden sind, aber das war’s auch schon. Sie wussten nicht, was Judentum ist und wie sie es für sich mit Leben füllen könnten.
Etwas einfach zu glauben – das ist nichts für mich.
Als nun in der Grundschule gefragt wurde, welcher Religionszugehörigkeit ich sei, zögerten meine Eltern keine Sekunde – sie wollten nicht, dass ich katholischen oder evangelischen Religionsunterricht erhalte. Und so kam einmal in der Woche eine Lehrerin aus Stuttgart und erteilte mir und zwei weiteren Kindern in den Räumen eines Gymnasiums jüdischen Religionsunterricht.
ELTERN Nach Jahrzehnten war ich der Erste in meiner Familie, dem das Judentum auch als Religion nahegebracht wurde. Bis dahin hatte es außer den Geschenken an Chanukka nicht viel Jüdisches in unserem Leben gegeben.
Es war aber nicht nur mein Religionsunterricht, der unsere Familie beeinflusste: Auch durch jüdische Freunde, die wir an Pessach und anderen Festen besuchten, waren meine Eltern im Laufe der Jahre ein wenig auf Tuchfühlung mit dem Judentum gegangen. Dies führte dazu, dass sie, als ich zwölf war, richtigen Barmizwa-Unterricht für mich wollten. Ich sollte aus der Tora lesen können – das wünschten sie sich.
Ich war damit einverstanden, denn irgendwie dachte ich: Wenn ich älter bin, möchte ich Judentum »richtig machen«. Wenn es das Richtige ist, dann soll es auch richtig gemacht werden.
Und so kam eins zum anderen. Weil mir in der Schule eher die naturwissenschaftlichen Fächer lagen und ich in Englisch ein wenig schwächelte – ich kann bis heute nicht richtig Vokabeln lernen –, beschloss meine Mutter, mich zu einem Sprachaufenthalt ins Ausland zu schicken. Doch wie die meisten jüdischen Mütter hielt sie »die Welt da draußen« für viel zu gefährlich für ihren 14-jährigen Sohn.
CHABAD Aber sie hatte eine Idee: Sie wandte sich an Rabbiner Trebnik in Ulm. Dies führte dann dazu, dass ich in ein Chabad-Machane nach England fuhr. Meine Mutter war beruhigt: Dort könne mir nichts passieren, dachte sie, die Leute sind religiös, die werden dem Jungen schon keine Zigaretten und keinen Alkohol anbieten.
Für mich war es eine interessante Erfahrung. Zwar war ich unter all den schwarzweiß Gekleideten der Einzige, der ein farbiges T-Shirt trug, aber mir hat es dort sehr gefallen. Ich erlebte zum ersten Mal lebendiges Judentum, so etwas gab es ja in Tübingen nicht.
Unter all den schwarzweiß Gekleideten war ich der Einzige, der ein farbiges T-Shirt trug.
Darüber hinaus bot das Machane alles, was ein Jungenherz begehrt: Paintball, Gokart, Fußball, Wasserski und sehr gutes Essen am Schabbat!
Natürlich wurde auch gelernt: Mischna zum Beispiel, das war mir bis dahin unbekannt, weil mein Hebräisch noch nicht das entsprechende Niveau hatte. Aber die Betreuer waren alle sehr verständnisvoll mit mir.
Ein Jahr später empfahl mir mein Religionslehrer auf dem Gymnasium, zur Lauder-Jeschiwa nach Berlin zu fahren. Das habe ich dann mit 15 in den Sommerferien gemacht und war danach jedes Jahr im Winter und im Sommer dort. Wir haben Talmud gelernt, das gefiel mir, ich konnte mich intellektuell mit den Rabbinern auseinandersetzen. Für mich muss alles einen Sinn haben, logisch sein. Etwas einfach zu glauben – das ist nichts für mich. Aber Judentum ist auch nicht so, sondern alles hat eine logische Struktur, und die Halacha wird nach logischen Prinzipien entschieden. Das hat mich angesprochen. »Beweis es mir!« – das ist meine Einstellung.
RABBINER Als ich klein war, hat mal jemand gefragt, was ich werden will. Ich habe geantwortet: »Rabbiner.« Warum? Meine Mutter hat mir oft chassidische Geschichten vorgelesen, in denen der Rabbi immer der schlaue Kopf war – so einer wollte ich sein. Aber ich wusste damals nicht, was ein Rabbiner ist.
Mit 16 wollte ich dann nicht mehr Rabbiner werden. Ich hatte den Film Matrix gesehen – mein Lieblingsfilm bis heute! – und machte daraufhin ein Praktikum am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik. Von da an wusste ich, dass ich beruflich in diese Richtung gehen möchte. Also fing ich nach dem Abi an, Bioinformatik zu studieren – das Fach, das, wie ich finde, am besten zu jemandem passt, dessen Lieblingsfilm Matrix ist.
Was bin ich? Was definiert mich? Wofür lebe ich? Das sind die Fragen, die mich antrieben, Bioinformatik zu studieren und zugleich mehr über das Judentum zu lernen. Also ging ich im Sommer nach dem Abitur erst einmal für zwei Monate an eine Jeschiwa nach Jerusalem.
JESCHIWA Als ich drei Jahre später das Bachelor-Studium abgeschlossen hatte, sagte ich mir: Wenn ich nicht jetzt etwas länger in eine Jeschiwa gehe, werde ich es nie in meinem Leben tun. Also fragte ich einen Rabbiner an der Berliner Lauder-Jeschiwa, und er empfahl mir Machon Shlomo, eine kleine amerikanische Jeschiwa im Jerusalemer Stadtteil Har Nof. Sie bieten dort ein zweijähriges Programm an. Das ist genau zugeschnitten auf Leute wie mich ohne religiösen Hintergrund, die schon ein Bachelor-Studium hinter sich haben und nach der Halacha leben wollen.
Diese zwei Jahre haben mir sehr viel gebracht. Ich habe zum ersten Mal über einen längeren Zeitraum orthodoxes Judentum als Normalität erleben können. Ich glaube, es ist sehr wichtig im Leben eines traditionellen Juden, für eine gewisse Zeit ausschließlich Tora zu lernen. So kann man die Schönheit und die gedankliche Tiefe der Tora und des Talmuds schätzen lernen.
Ein weiterer, sehr wichtiger Punkt war für mich, vor der Heirat ganz explizit die Zeit zu nutzen, um an meinen Charaktereigenschaften zu arbeiten. So konnte ich besser vorbereitet in die Ehe gehen. Flüssig Hebräisch spreche ich allerdings bis heute nicht, denn die meisten Studenten an der Jeschiwa kamen aus Amerika, da wurde in den Pausen natürlich Englisch gesprochen.
Ich forsche an der chemischen Modulation der DNA.
Und auch da, wo ich jetzt bin, spricht man kaum Hebräisch. Denn die Leute in meiner Projektgruppe an der Uni kommen aus verschiedenen Ländern, und so reden wir hauptsächlich Englisch.
Seit 2016 pendele ich, wenn man so will, zwischen Jerusalem und Tübingen. Ich studiere Neurowissenschaften an der Hebräischen Universität, nehme an einem sogenannten Direct PhD Program teil, mache also zugleich ein Master- und Promotionsstudium.
Ich forsche an der chemischen Modulation der DNA. Das genetische Programm von Menschen, Affen und Urmenschen ist sehr ähnlich – doch wir haben viele unterschiedliche Eigenschaften. Warum ist das so? Genau daran forsche ich.
HOMEOFFICE Zurzeit bin ich die meiste Zeit im Homeoffice. Auf mich wirkt sich das aber weniger schlimm aus als auf manch andere Wissenschaftler, denn ich forsche nicht im Labor, sondern konzentriere mich auf die mathematische Seite, werte Experimente aus, mache statistische Tests. Meine Arbeit geschieht vor allem am Rechner, so etwas kann man überall machen. Das erlaubt es mir, jedes Jahr im Winter, Frühjahr und Sommer etliche Wochen, ja, Monate in Tübingen zu sein.
Seit vier Jahren bin ich verheiratet. Gemeinsam mit meiner Frau Malki und unseren beiden Kindern reise ich zwischen Israel und Deutschland hin und her. Als wir kürzlich in Frankfurt landeten, mussten wir in Quarantäne, obwohl das anders abgesprochen war, denn wir sind ja geimpft. Als Geimpfter fühlt man sich endlich wieder frei! Das wünsche ich auch meinen Eltern und Geschwistern – und allen anderen in Deutschland, die es wollen.
Aufgezeichnet von Tobias Kühn