Bad Sobernheim

Töchter und Söhne der Pflicht

Dass sich die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) im Rahmen des Projekts »Gesher – Die Brücke« um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in die jüdische Gemeinschaft kümmert, ist bekannt. Am Donnerstag vergangener Woche jedoch betrat man Neuland: mit einer Bar- und Batmizwa für Menschen mit einer Behinderung, eingebettet in eine Bildungsfreizeitwoche.

27 geistig, seelisch, körperlich und mehrfach behinderte Menschen reisten mit ebenso vielen Angehörigen für eine Woche ins Max-Willner-Heim nach Bad Sobernheim. Heraus aus dem Alltag, hinein in einen geschützten Rahmen. Menschen treffen, die sich in ähnlichen Lebensumständen befinden.

Gesellschaft Sofiya Grinberg aus Saarbrücken hat bereits seit 31 Jahren einen geistig und körperlich behinderten Sohn. Er heißt Philipp. Ein bis zwei Mal pro Jahr nimmt Grinberg das ZWST-Angebot wahr, an der Bildungsfreizeit in Bad Sobernheim oder Bad Kissingen teilzunehmen.

Bildung »Unsere Kinder sind hier viel lockerer. Sie können Freunde finden. Sie denken einmal nicht an Ausgrenzung und das Leben am Rand der Gesellschaft«, sagt Grinberg. Sie schätze die Bildung, die man hier eine Woche lang annehmen könne. »Ich wusste gar nicht, was mein Sohn alles selbst machen kann«, hat sie festgestellt, als sie Phi­lipp mit anderen Teilnehmern erlebt hat.

Die Bar- und Batmizwa sei Familie Grinberg bislang noch nicht wirklich wichtig gewesen. »Ich meinte immer, dass mein Sohn sie nicht braucht«, sagt Sofiya Grinberg. »Aber es war Philipp wichtig, auch endlich als Erwachsener zu gelten!« Er werde sich danach besser fühlen. Und bestimmt nehme sie ihren Sohn künftig auch ein Stück erwachsener wahr, sagte Grinberg über das ZWST-Angebot.

Der Wunsch, eine Bar- oder Batmizwa-Feier auch für behinderte Menschen durchzuführen, wurde immer einmal wieder von Eltern behinderter Kinder geäußert, sagt Dinah Kohan, die Projektleiterin von Gesher. Die Leiterin des Sozialreferats, Jutta Josepovici, hat diesen Wunsch ernst genommen und gemeinsam mit dem Gesher-Team umgesetzt. Noch vor zwei Jahren war die Resonanz bei einer Elternbefragung eher mäßig. 2018 dann das Gegenteil.

Gesher Ob es daran lag, dass der größte Teil der Seminarteilnehmer aus der ehemaligen UdSSR stammt, wo viele nie die Möglichkeit einer Barmizwa hatten, oder weil die ZWST bis zu 350 Familien von Kindern mit Behinderungen anschrieb, oder weil die Minna-Ludnowski-Stiftung eine Spende zu der Feier beisteuerte, ist die Frage. Vielleicht ist es auch eher ein Sinneswandel in der jüdischen Gemeinschaft, dass Menschen mit Behinderung das Recht haben, vollwertig integriert zu sein, was freilich nur durch eine Bar- und Batmizwa erreicht werden kann. Letzteres wäre ein wichtiger Etappenerfolg für die ZWST und ihr Projekt Gesher.

Für Leo Stein aus Berlin war die vergangene Woche »die große Chance meines Lebens«. Endlich, mit über 50, Barmizwa zu werden, das wollte er sich nicht entgehen lassen. »Alle von der ZWST haben sich sehr um mich bemüht«, sagt Stein.

Auch die Religionslehrer Benni Pollack und Pinchas Kranitz vom Projekt Gesher gaben alles, um die Teilnehmer gemeinsam und geduldig auf die Feier vorzubereiten. Die Zeremonie selbst wurde von dem Frankfurter Rabbiner Julian-Chaim Soussan geleitet. Es war eine sehr lebendige Feier, bei der die Teilnehmer musikalisch begleitet unter einem selbst bemalten Baldachin die Torarolle in den Raum brachten. Sie tanzten, sangen und hörten bewegende Reden, sowohl von den Eltern als auch von ZWST-Direktor Aron Schuster.

Der religiöse Aspekt war zwar das I-Tüpfelchen bei dieser ZWST-Freizeit, doch den überwiegenden Teil verbrachten die jungen Frauen und Männer mit Ausflügen zu einem nahe gelegenen Reiterhof.

»Für Großstadtmenschen ist so ein Kontakt mit echten Therapiepferden schon eine seltene Gelegenheit«, betonte Projektleiterin Kohan. An mehreren Abenden gab es auch eine Disco, und die Gymnastik- und Sportangebote kamen bei den Teilnehmern gut an. Eine Diskussion bei der Schabbatfeier war der Frage »Wie war die Barmizwa?« gewidmet.

Auszeit Eigentlich steht die Betreuung in dieser Woche auch unter einem psychologischen Aspekt. Es gibt Eltern-Gesprächsrunden zu verschiedenen Themen, etwa »Mein Kind wohnt jetzt woanders ...«. Die Teilnehmer erhalten vielfältige Gesprächs­angebote, und Angehörige informierten sich im Vortrag zu Gesetzesänderungen im Sozialrecht.

Der weltliche Teil der ZWST-Bildungsfreizeit wird zu 80 Prozent von der »Aktion Mensch« bezuschusst, erläutert Dinah Kohan. Erst dadurch wird es möglich, Spezialisten wie den Oberarzt und Psychiater Uwe Winkler, die Psychologin Florina Gendler oder die Theaterpädagogin Keren Kesselmann mitwirken zu lassen.

Letztere kommt zu solchen Terminen niemals alleine. Ihr treuer Begleiter heißt Aaron, ist 40 Zentimeter groß, vorpubertär und aus Stoff. Eine Handpuppe, zu der verschlossene Menschen wie von Zauberhand Vertrauen fassen können. »Ob Aaron etwas macht oder nicht: Die Leute nehmen ihn ernst. Auch die fitteren«, verrät Kesselmann.

So erfahren sie, was sich Menschen mit Behinderungen wünschen. Wie zum Beispiel »einmal eine Waschmaschine selbst bedienen zu können« oder »es schaffen, dass meine Eltern nicht mehr für mich sprechen müssen«. Übrigens: Weil Aaron kein Russisch versteht, sind die russischen Teilnehmer gezwungen, deutsch zu sprechen.

Motivation »Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft weitere Bar- und Batmizwa-Feiern für Menschen mit einer Behinderung durchführen können. Aber es ist beileibe nicht sicher«, sagt Dinah Kohan. Denn Kosten und der Bedarf müssen sichergestellt werden.

Vielleicht könne man mit dieser Woche in Bad Sobernheim auch andere Menschen mit Behinderung und ihre Eltern motivieren, den Schritt in die Religionsmündigkeit zu wagen, und danach neue Helfer und Sponsoren finden.

Gespräch

»Es ist noch längst nicht alles verloren«

Sie sind jung, jüdisch und leben in Ostdeutschland. Zwei Wochen nach den Erfolgen der rechtsextremen AfD in Thüringen und Sachsen fragen sie sich: Sollten wir gehen? Oder gerade jetzt bleiben?

von Joshua Schultheis, Mascha Malburg  20.09.2024

Vertreibung

Vor 600 Jahren mussten die Juden Köln verlassen - Zuflucht auf der anderen Rheinseite

Die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen - und dann ist auf einmal Schluss. Vor 600 Jahren verwies Köln seine Juden der Stadt. Viele zogen darauf gen Osten, manche kamen dabei nur ein paar Hundert Meter weit

von Johannes Senk  19.09.2024

Magdeburg

Jüdischer Kalender für 5785 in Sachsen-Anhalt veröffentlicht

Bereits vor Rosch Haschana ist er als Download verfügbar

 18.09.2024

Augsburg

Jüdische Kulturwoche beginnt in Bayerisch-Schwaben

Führungen, Konzerte und Workshops stehen auf dem Programm

 18.09.2024

Berlin

Für die Demokratie

Ehrenamtspreis für jüdisches Leben für das EDA-Magazin und »BeReshith«

von Katrin Richter  17.09.2024

Hochschule

»Herausragender Moment für das jüdische Leben in Deutschland«

Unter dem Dach der neuen Nathan Peter Levinson-Stiftung werden künftig liberale und konservative Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet. Bei der Ausbildung jüdischer Geistlicher wird die Uni Potsdam eng mit der Stiftung zusammenarbeiten

von Imanuel Marcus  17.09.2024

Würdigung

Ehrenamtspreise für jüdisches Leben verliehen

Geehrt wurden das »EDA-Magazin« und der Verein BeReshit aus Sachsen-Anhalt

 16.09.2024

Hannover

Leib und Seele sind vereint

Die bucharische Gemeinde eröffnete in ihrem neuen Zentrum drei Mikwaot

von Michael B. Berger  16.09.2024

München

Wehmütig und dankbar

Die Religionslehrerin Michaela Rychlá verabschiedet sich nach knapp 30 Jahren in den Ruhestand

von Luis Gruhler  15.09.2024