In Bremen bin ich direkt nach meinem Studium gelandet – pünktlich zu Beginn der Pandemie. Wichtig war mir, in eine Stadt zu ziehen, in der ich mir ein langfristiges Bleiben vorstellen kann. Das traf auf Bremen mit seiner Größe sowie dem politischen und geografischen Klima zu. Ohnehin spricht mich die Region im Norden Deutschlands seit Längerem einfach an: nah am Wasser, postindustriell, über die Häfen eine nur gefühlte oder auch tatsächliche Anbindung an die Welt. Die Atmosphäre in Rotterdam etwa, wo ich vor einigen Jahren eine Zeit lang lebte, hat mich nachhaltig beeindruckt.
Bremen ist zwar auch eine arme Stadt, viele Menschen haben sichtbar wenig Geld, gleichzeitig fällt mir aber auf, dass man hier nicht so stark nach seinem Job bewertet wird. So stecken viele Menschen ihre Energie nicht nur in die Lohnarbeit, sondern auch in nachbarschaftliches, ökologisches oder anderes politisches Engagement.
Ähnlich handhabe ich es auch: Ich arbeite in Teilzeit, und daher bleibt noch genug Zeit für eigene ehrenamtliche Projekte. In Hamburg, München oder Stuttgart wäre das in dieser Form wahrscheinlich nicht möglich.
Die Arbeit in einem jüdischen Verein hat mein Selbstbewusstsein enorm gestärkt.
Leben und leben lassen, das ist die Atmosphäre, der Vibe, den das gemütliche Bremen für mich ausstrahlt. Hier herrscht ein ganz anderes Tempo als in Moskau, wo meine Oma lebt. Ich liebe diese Stadt, aber dort komme ich mir vor wie im Hamsterrad.
Ich bin schon sehr gespannt darauf, nach dem Ende der Pandemie noch mehr über Bremen und seine Geschichte zu erfahren. Sehr interessant finde ich es, dass das liberale Judentum ursprünglich aus Norddeutschland kommt.
Die Anbindung an die jüdische Gemeinschaft war bei meiner Entscheidung für Bremen übrigens nicht wichtig. Ich habe mich darauf verlassen, dass die Stadt groß genug ist und ich irgendwann einfach andere jüdische Menschen kennenlerne.
SOZIALISATION Studiert habe ich Geografie und Geoinformatik in Heidelberg und in Jena. In meiner politischen Sozia-lisation stark beeinflusst haben mich die antisemitischen sogenannten Friedensdemonstrationen 2014 sowie die Konfrontation mit der Tatsache, dass der NSU aus Jena kommt. Daher habe ich mich neben meinem Studium viel mit der Neuen Rechten und neonazistischen Strukturen in Thüringen und in ganz Deutschland auseinandergesetzt. Diese Themen prägen mein politisches Engagement in jüdischen sowie in nichtjüdischen Kontexten.
In Erinnerungen an lang zurückliegende Machanot, jüdische Ferienfreizeiten, kann ich gar nicht schwelgen, da ich mein jüdisches Zuhause im liberalen Judentum erst mit 21 Jahren gefunden habe. Das kam so: Während meines Geografiestudiums in Heidelberg war ich in der Fachschaft aktiv und lernte darüber eine Kommilitonin kennen, von der ich lange aber gar nicht wusste, dass sie ebenfalls jüdisch ist.
Meine Kommilitonin war damals bei der Jugendorganisation Netzer aktiv und hat mich dann einfach einmal zu einem bundesweiten Treffen von »Jung und Jüdisch« in der Nähe von Berlin mitgenommen. Seitdem war ich regelmäßig bei den Seminarfahrten in Deutschland, den Niederlanden, Griechenland und Israel dabei.
AUSTAUSCH Inzwischen heißt der Verein TaMaR Germany, benannt nach dem Akronym für Tnuat Magshimim Reformit. Seit zwei Jahren bin ich auch im Vorstand aktiv und möchte die Möglichkeiten, die ich in den vergangenen Jahren hatte, auch für andere gestalten. Bei uns können junge Menschen in einem informellen, niedrigschwelligen Rahmen Seminare oder Schabbatons gemeinsam selbst organisieren und in einen gemeinsamen Austausch gehen. Mich selbst hat das Engagement bei TaMaR in meinem Selbstbewusstsein enorm gestärkt, auch in meinem Selbstverständnis als liberale Jüdin.
Ich wünsche mir mehr offenen Austausch zur Diversität unserer größtenteils postmigrantischen Biografien.
Während der Pandemie haben wir natürlich viel online gemacht. Zum Beispiel haben wir eine Gesprächsrunde zu den letzten Wahlen in Israel organisiert mit Rabbinerin Lea Mühlstein, der Vorsitzenden von Arzenu Olami, einer zionistischen Organisation, die sich für mehr religiösen Pluralismus und Minderheitenrechte in Israel einsetzt. Eine andere Veranstaltung war ein Workshop mit der Bildungsinitiative »Jüdisch & Intersektional«, in dem wir der Frage nachgegangen sind, warum jüdische Perspektiven in feministischer und antirassistischer Arbeit so oft ausgeblendet werden.
Besonders gefallen hat mir unser Reflexionsseminar. Darin haben wir uns mit unseren Zielen, Wünschen und Bedürfnissen bei TaMaR auseinandergesetzt. Das Community Building zu kultivieren und Nachhaltigkeit in unsere Strukturen zu bringen, ist mir sehr wichtig.
HALLE-PROZESS Ende vergangenen Jahres bin ich zusammen mit einigen Leuten aus Bremen zum letzten Verhandlungstag des Halle-Prozesses gefahren. Über diese Fahrt habe ich Kontakt zu anderen Gruppen aufgebaut, etwa dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bremen, in dem ich nun ebenfalls aktiv bin. Kürzlich haben wir eine Veranstaltung mit der Nebenklägerin im Halle-Prozess, Naomi Henkel-Gümbel, organisiert. Ich durfte die Veranstaltung, die mir sehr am Herzen lag, moderieren. Dabei haben wir auch einen Spendenaufruf für den Umbau des ebenfalls von dem antisemitischen Anschlag betroffenen Kiezdöners verbreitet.
Denn es bleibt leider oft unsichtbar, welche praktischen Probleme solche Attentate neben der emotionalen Last hinterlassen. Wichtig war mir dabei auch, den Zusammenhang zu anderen rechtsterroristischen Anschlägen herzustellen. Anlässlich des Jahrestages des Attentats von Hanau im Februar habe ich auf dem Bremer Marktplatz für TaMaR auch einen Redebeitrag gehalten, der genau diese ideologischen Querverbindungen zwischen Antisemitismus, Rassismus und Misogynie hervorhob.
In den Maiwochen sind leider viele der linken, antirassistischen Gruppen, die sich an der Kundgebung beteiligten, durch antisemitische Äußerungen aufgefallen. Das hat mich vorsichtiger gemacht. An meiner grundsätzlichen antirassistischen Haltung wird das aber nichts ändern.
ALIJA Die Wochen im Mai waren für mich kräftezehrend, zum Teil auch wirklich desillusionierend. Nicht nur aufgrund des emotionalen Stresses hier vor Ort in Deutschland, sondern auch weil mir Israel am Herzen liegt und ich dort Freundinnen, Freunde und Verwandte habe. Ich verfolge die politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa aufmerksam und bin ernüchtert genug, um zu wissen, dass Alija irgendwann einmal eine Option sein könnte. Hebräisch könnte ich für diesen Fall auch schon ein bisschen. Über einen Sprachkurs in Jena habe ich mir da eine gute Grundlage erarbeitet.
Von Deutschland aus ist es schwierig, die israelische Gesellschaft und Politik in ihrer gesamten Komplexität zu begreifen.
In Israel war ich bisher sieben Mal, sowohl privat als auch über Bildungsreisen mit TaMaR Germany oder den Falken, einem sozialistischen Jugendverband. Spannend war es, vor Ort mit Social-Justice-Aktivistinnen und -Aktivisten ins Gespräch zu kommen, die zum Beispiel das progressive Judentum vor Ort stärker zu verankern versuchen.
DIVERSITÄT Insgesamt verfolge ich die Geschehnisse und Entwicklungen in Israel mit neugierigem Interesse. Mir ist allerdings bewusst, dass es äußerst schwierig ist, von Deutschland aus die israelische Gesellschaft und Politik in ihrer gesamten Komplexität zu begreifen.
Themen, zu denen ich mir vor allem in der jungen jüdischen Community in Deutschland mehr offenen Austausch wünsche, sind die Diversität unserer größtenteils postmigrantischen Biografien, gerade im Zusammenhang mit der Einwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
Dazu kommt der Umgang mit Patrilinearität. Im politischen, sozialen und innerjüdischen Engagement treibt mich die Vorstellung des Tikkun Olam an – also der Versuch, die Welt dort, wo man Möglichkeiten sieht, ein Stück weit zu reparieren und zu verbessern.
Aufgezeichnet von Till Schmidt