Man soll ja das Glück nicht erzwingen. Aber nachhelfen darf man natürlich. »Talisman« habe ich deshalb mein Reisebüro genannt, und ich hoffe, das ist ein gutes Omen. Immerhin ist es schon mein zweiter Versuch mit der Selbstständigkeit, und ich bin inzwischen 51. Der erste Anlauf ist nicht geglückt. Ich hatte eine Ich-AG gegründet, die Sozial- und Dolmetscherdienste für Zuwanderer anbot. Nun ja, es scheint in einer Stadt wie Halle keinen wirklichen Bedarf zu geben. Aber mich beim Arbeitsamt zu melden, das konnte ich mir absolut nicht vorstellen. So folgte Versuch Nummer zwei.
Jetzt mit dem Reisebüro könnte es klappen. Seit einem guten Jahr laufen die Geschäfte. Und natürlich ist russische Kundschaft, die in die alte Heimat fahren möchte, das wichtigste Standbein des Unternehmens. Meine Kollegin und ich besorgen Tickets, Übernachtungen, Visa, wir organisieren alles. Wir haben auch deutsche Kunden. Viele von ihnen reisen vor allem in die Metropolen Moskau, Sankt Petersburg, Kiew – und nach Kaliningrad, das frühere Königsberg.
einwanderung Vor mittlerweile 14 Jahren bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. Ich wollte damals eigentlich nicht von zu Hause weg, materiell ging es uns in Russland gut. Wir lebten in einem Sputnik-Städtchen – in Deutschland sagt man dazu Satellitenstadt – 20 Minuten vor den Toren von Moskau. Wir hatten eine kleine Wohnung, ich habe als studierte Diplomökonomin in einem Autokranwerk gearbeitet. Eigentlich passte alles. Und weil ich von Haus aus optimistisch bin und stets nach vorn schaue, wollte ich bleiben. Aber dann, Mitte der 90er-Jahre, wurde meine Mama zum Zugpferd, als es um die Frage ging: Gehen wir nach Deutschland? Eine Entscheidung zu treffen war wirklich nicht einfach. Den Ausschlag gab schließlich der latente Antisemitismus, der schon zu Sowjetzeiten verbreitet war und den vor allem meine Mama nur schwer ertragen konnte. So haben wir dann den Antrag gestellt. Bis zur Genehmigung hat es noch einmal sieben Monate gedauert.
Als wir 1996 in Halle an der Saale eintrafen – es war Zufall, dass wir nach Sachsen-Anhalt kamen – und die ersten verfallenen Häuser am Stadtrand sahen, wirkte das auf mich wie nach dem Krieg. Unvorstellbar, diese Ruinen! Und das noch im Jahr 1996. Dann fuhren wir nach Halle-Neustadt – und ich erkannte darin mein Sputnik-Städtchen wieder, mit all den Plattenbauten. Ein Stück Heimat, unglaublich grün, was viele bis heute nicht wahrhaben wollen. Nachdem wir dann für kurze Zeit im Heim untergebracht waren – zwei Familien in zwei Zimmern –, sind wir innerhalb von Halle-Neustadt umgezogen. Nun haben wir eine eigene Wohnung in einem Neubaublock, wo außer uns noch Tschetschenen und Türken leben sowie Albaner und Russen. Inzwischen sind wir seit sieben Jahren deutsche Staatsbürger, und es ist Alltag eingekehrt bei uns.
Erfahrungen Bei den Stadtführungen, die ich anbiete, erkläre ich immer zu Anfang offensiv: Ich bin Jüdin. Ich denke, so nimmt man den Skeptikern am besten den Wind aus den Segeln. Aber vielleicht liegt das auch in meiner eigenen Geschichte begründet. Ich entstamme einer jüdischen Familie aus Dnjepropetrowsk, einer Millionenstadt in der Ukraine. Dass ein paar von uns die Nazizeit überlebten, war pures Glück. Als alle ins Ghetto getrieben wurden, war meine Urgroßmutter gerade in Sotschi im Kaukasus. Ihr rettete es das Leben, 37 andere aus unserer Familie sind damals umgekommen. Das Judentum hat mich geprägt, auch wenn es in der Sowjetunion praktisch unmöglich war, religiös zu leben. Obwohl in unserem Pass als Nationalität »jüdisch« eingetragen war, sah man dies nicht gern. Jüdisch zu sein, war schlichtweg ein Tabu. Wenn man zum Beispiel in einer Buchhandlung Bücher kaufte, las man im Klappentext zur Biografie des Autors immer: Der Verfasser ist ein ukrainischer oder lettischer oder armenischer Sowjetdichter. Stand da nur »Sowjetdichter«, war jedem Leser klar, dass er ein Jude ist. Aber es wurde einfach verschwiegen. Selbst in einer Millionenstadt wie Moskau.
Dort gab es zwar eine Synagoge, aber der Weg dorthin war gesäumt von diesen auffällig unauffälligen Männern in dunkelgrauen Trenchcoats. Sie beobachteten genau und meldeten, wer dort hinging. Nur alte Leute hatten nichts zu befürchten. Und so verdanke ich es vor allem meiner Großmutter, dass ich das Judentum durch die Zeit getragen habe. Seit meinem achten Lebensjahr wohnten wir bei Moskau. Wir sind wegen der Arbeit meines Vaters dorthin gezogen. Er starb 1988, weil er zwei Jahre zuvor nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl vor Ort bei den Arbeiten am Stahl-Sarkophag mit eingesetzt worden war.
Identität Natürlich hilft uns die Religion heute auch. Mein Mann Alexander, ein Russe und derzeit in einer Maßnahme des städtischen Eigenbetriebs beschäftigt, ist fast noch orthodoxer als ich. Die Gemeinde ist unglaublich wichtig für uns. Sie hat heute wieder fast 700 Mitglieder, und praktisch alle sind Zuwanderer. Hier treffen sich viele, und deshalb ist sie für uns so etwas wie ein Kommunikationspunkt in der Stadt. Vor allem auch für die Kinder, die zusätzlich noch die deutsche Sprache lernen müssen. Ich habe gerade ein großes Klezmer-Festival organisiert. Nun arbeite ich an einem Nachfolgeprojekt für junge Bands, obwohl die Finanzierung noch offen ist. Die Bürokratie ist träge. Ich bin aber optimistisch, dass wir noch Förderer finden. Es wäre sonst sehr schade um diese Möglichkeit, Menschen zusammenzubringen. Denn Musik kann verbinden und Zuwanderern eine Identität geben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Identität noch etwas anderes ist als gemeinhin angenommen. Das hat nur zum Teil etwas mit Sprache und Religion zu tun. Es hat, denke ich, vor allem etwas mit dem Willen zum Dazugehören zu tun. Deshalb versuche ich auch, in einer Stadt wie Halle wirklich heimisch zu werden und die Angebote wahrzunehmen. Ich bemühe mich, Kunden und Touristen, eben meinen Gesprächspartnern, zu vermitteln, dass es auf halber Strecke zwischen Berlin und München noch eine 1.000 Jahre alte und heute wieder unglaublich schöne Stadt gibt. Eine uralte Hansestadt übrigens, was viele nicht wissen. Und dass sie ein Teil dieses Deutschlands ist wie jede andere Stadt auch. Aber versuchen Sie mal, das in die Köpfe zu kriegen!
Als wir hierherkamen, haben wir alles angeschaut. Wir sind mit dem Wochenendticket der Bahn, als es für uns noch preislich attraktiv war, quer durch Deutschland gefahren. Fünf Leute, hin und zurück an einem Tag. Es war damals gut für uns gegen das Heimweh, weil wir ja nur alle zwei, drei Jahre nach Russland fahren können. Denn die Reise ist einfach zu teuer. Aber bei zwei Cent pro Minute lässt sich heute ohnehin vieles schnell am Telefon erledigen. Ich wollte vor allem aber auch, dass meine Tochter Tatjana eine Vorstellung von ihrer neuen Heimat bekommt. Sie war damals in der Pubertät, eine schwierige Zeit für uns alle. Aber: Diese Reisen haben geholfen. Heute ist sie 27, spricht perfekt Deutsch und arbeitet als Schichtleiterin in der Gastronomie. Wer mich fragt, was Glück ist, dem antworte ich: eine Heimat zu haben. Für mich ist es Halle.
Aufgezeichnet von Steffen Reichert