Schneller und noch schneller – jede Ecke müsst ihr ausfüllen. Laufen. Drehen. Nicht stoppen!» Daniel Freimans Stimme hallt durch den Saal in der Oranienburger Straße, «schneller, schneller, schnelle Entscheidungen treffen». Der große Saal neben dem Centrum Judaicum ist Übungsraum für Freimans Schauspielkurs, und bei dem dreht sich alles um Improvisation.
Im Spaziergang oder im Sprint nehmen Freiman und seine Schüler den Saal wahr. In Diagonalen den Raum durchqueren, stehen bleiben und dem nächstgelegenen Mitstreiter einen guten Tag wünschen. «Sagt nur euren Namen», ordnet Freiman als Nächstes an, «sagt nicht eure Hobbys oder woher ihr kommt, sondern sagt euren Namen und legt eure ganze Persönlichkeit hinein. Wir sind einfach wir, denn wir kennen uns schließlich auch nicht.»
Ukraine Im Rahmen des «Projekt Impuls» bietet der Schauspieler und Theaterpädagoge Daniel Freiman Kurse für Erwachsene an. Er selbst kommt eigentlich aus der Ukraine. Mit 14 Jahren machte er mit seiner Familie Alija. In Israel beendete er die Schule und musste sich bald einer wichtigen Frage stellen, nämlich die nach seiner beruflichen Zukunft. «Bis ich 25 war, wusste ich noch gar nicht, was ich tun soll», erinnert er sich.
Eine Frage, die vor allem seiner Mutter Kopfzerbrechen bereitete. Studieren kam nicht infrage, dennoch probierte der heute 37-Jährige es auf Anraten eines Freundes für ein Jahr mit einem Studium in Schauspiel und Philosophie. «Philosophie war eine gute Ergänzung zur Schauspielerei. Man muss die Figuren, die man spielt verstehen, den Grund ihrer Handlungen», erklärt er seine damalige Entscheidung.
Nach einem Jahr bricht er sein Studium jedoch ab – zu theoretisch. An der Schauspielschule «Nissan Nativ» in Tel Aviv kann Freiman jedoch seinen Traum verwirklichen: «Im normalen Leben kann man nicht, nun ja», seine Finger malen Anführungszeichen in die Luft, «›verrückt‹ sein.» Er lässt sich auf die Knie sinken und hebt die Arme empor: «Wie Romeo auf die Knie fallen und sagen ›Ich liebe dich‹. Im Theater ist das total normal! Wenn du verrückt bist und gut dabei, dann sagen die Leute, das ist ein guter Schauspieler!» Und schon steht Freiman wieder mit beiden Füßen fest auf dem Boden.
Luftballon Die Gruppe sammelt sich zum ersten Spiel: Luftballon-Volleyball. Rote, weiße und blaue Ballons fliegen umher, keiner von ihnen darf den Boden berühren. «Alles, was sonst im Alltag verboten ist, machen wir hier», erklärt Freiman zwischen den Übungen, «seid offen, seid spontan!»
Die anfängliche Zurückhaltung aller ist bald vergessen, man quietscht und lacht und robbt gemeinsam über den Boden. «Es ist immer wieder eine Überwindung, die Schamgrenze vor anderen, vor neuen Leuten fallen zu lassen», gibt Sophia offen zu. Die braunen Haare hat sie zum Zopf geflochten, die Füße stecken in Turnschuhen. Auf den Kurs ist sie über einen Aushang aufmerksam geworden: «Ich schauspielere bereits und bewerbe mich gerade an verschiedenen Schulen. Aber in diesen Kursen kann man immer wieder neue Dinge lernen, jeder bringt eigene Ideen mit ein.» Schnell noch den Pullover über den Stuhl werfen, und weiter geht’s, das nächste Spiel wartet.
Gaukler Ein Stuhlkreis. Ein Teilnehmer in der Mitte, die anderen um ihn herum. Der König in der Mitte soll nun unterhalten werden, erörtert Freiman das Spiel, jeder solle etwas aufführen, schnippst der König, wechselt der Gaukler: «Wir können spielen und verlieren – nichts passiert. Wir haben einfach Spaß. Seid nicht verbissen, erst dann gewinnt ihr!» Und schon steht die erste Mutige auf, Hose noch einmal zurecht gerückt, Musik an. Ihre Füße fliegen über das Parkett, als «echte Russin» tanzt sie einen Kasatschok. Und dem König gefällt es. Freiman sitzt im Kreis mit den anderen Teilnehmern. Die lockigen Haare im Nacken gebunden, klatscht er, sein Gesicht strahlt, die Füße wippen mit.
Die Liebe zur Improvisation fand der Wahl-Berliner im russischen Stand-up-Theater: «Tanzen, singen, spielen – ich habe das sehr genossen. Und für mich war der Platz, der all dies vereint, eben das Theater.» Einen anderen Menschen zu verkörpern, faszinierte den Schauspieler, den «Alltag zerbrechen» nennt er es. Dieses Wissen möchte er weitergeben, aber nicht nach der «Was wäre, wenn»-Methode, wie der russische Theatertheoretiker Konstantin Sergejewitsch Stanislawski sie formte, sondern locker. «Die Menschen wissen nicht, was kommt, ganz spontan – Improvisation eben. Einfach genießen, nicht planen!»
Glück So fing auch Freimans eigenes Leben in Berlin an. Mit knapp 50 Euro in der Tasche und einem Drei-Monats-Visum kam er aus Dortmund. Sein Bruder, der heute noch dort lebt, gab ihm den Rat, sein Glück in Berlin zu suchen. Die Sofas von Freunden wurden seine Schlafstätte, bevor er richtig Fuß fassen konnte. Heute gibt Freiman regelmäßig Schauspielkurse in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin – vielleicht auch bald wieder mit einem Ensemble für Theateraufführungen.
Hut Die Nase im schwarzen Notizbuch vergraben, sucht Freiman nach dem nächsten Punkt auf seiner Liste: Hütchen klauen. Zwei Teilnehmer setzen jeweils einen Hut auf, das Ziel soll der Diebstahl des gegnerischen Hutes sein, und das möglichst kreativ. Es geht los. Aufgeregt versuchen Sophia und Julia, sich die Hüte zu stehlen.
Doch Freiman ist unzufrieden: «Seid offen. Redet miteinander. Seid spontan für euch selbst.» Auf der Stuhlkante sitzt er, bereit, erneut aufzuspringen. Schon nach wenigen Minuten unterbricht er wieder: «Wo ist der Dialog? Redet miteinander. Ein oder zwei Minuten. Plant keine Tricks.» Seine Standpauke wirkt, es wird geredet. Die beiden Frauen gehen spazieren, lachen und nehmen schließlich Platz. «Hast du Lust auf einen Kaffee?», fragt Sophia.
«Möchtest du vielleicht auch ein Stück Kuchen?», ergänzt Julia, die hobbymäßig Theater spielt. «Aber wo ist nur der Kellner?», fragt sie und blickt sich suchend um. Freiman scheucht seinen Sitznachbarn nach vorn. Sergej mit den kurz geschorenen Haaren und den Anzugschuhen muss den Kellner mimen – ganz spontan.