München 1972 ist für viele ein Begriff, der für das Massaker steht, das palästinensische Terroristen während der Olympischen Spiele an dem israelischen Olympiateam verübten. Eine Tragödie mit Geiselnahme, Terror und Tod.
Dass bereits zwei Jahre zuvor, im Februar 1970, mehrere Terroranschläge in Deutschland verübt wurden, ist dagegen kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent. Dabei fanden diese Attacken allesamt in München statt oder standen mit München in Verbindung. Innerhalb von nur elf Tagen kamen damals 55 Menschen ums Leben.
antisemitismus Mit eben dieser Terrorwelle, ihren Hintergründen und möglichen Zusammenhängen beschäftigt sich das neue Buch von Wolfgang Kraushaar, das Anfang des Jahres im Rowohlt-Verlag unter dem Titel »Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel« – München 1970: Über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus erschienen ist. Grund genug, den Politikwissenschaftler Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung in die IKG einzuladen und mit ihm über sein neues Werk zu diskutieren.
Die Veranstaltung im Hubert-Burda-Saal des jüdischen Gemeindezentrums begann mit einer Schweigeminute. Ellen Presser, die Leiterin des IKG-Kulturzentrums, verlas die Namen der Münchner Terroropfer. Arie Katzenstein, der bei der gescheiterten Flugzeugentführung einer El-Al-Maschine am 10. Februar 1970 ums Leben kam, und die sieben Holocaust-Überlebenden, die beim Brandanschlag auf das Altenheim der IKG in der Reichenbachstraße am 13. Februar 1970 sterben mussten: Regina Rivka Becher, Max Meir Blum, Rosa Drucker, Leopold Arie Leib Gimpel, David Jakubowicz, Siegfried Israel Offenbacher und Eljakim Georg Pfau.
Bis heute ist die Terrorwelle vom Februar 1970 nicht aufgeklärt. Für Wolfgang Kraushaar sind die erschütternden Ereignisse auch deshalb nicht nur ein Teil seiner Forschung, sondern das Thema für eine tiefe und weitreichende Recherche geworden, deren Ergebnisse er jetzt der Öffentlichkeit mit seinem Buch zur Diskussion stellen wolle, wie er ausführte. Der ausgewiesene Kenner der 68er und des modernen Terrorismus, der mit Publikationen wie Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus und Die RAF und der linke Terrorismus bekannt geworden ist, präsentierte in der Münchener Gemeinde die Ergebnisse seiner Recherche oder, wie er selbst sagte, seiner »Rekonstruktion«.
PLO Nach Kraushaars Erkenntnissen ist es mehr als naheliegend, dass die terroristischen Anschläge ihren Hintergrund in einer antiisraelischen und antisemitischen Kooperation zwischen deutschen Linksradikalen und palästinensischen Terrororganisationen hatten. Bekannte Namen der linken Szene von einst wie Dieter Kunzelmann oder Fritz Teufel tauchen dabei genauso auf wie ihre Organisationen – von der Bewegung »Subversive Aktion« bis hin zu der linksradikalen militanten Gruppe Tupamaros, einem Vorläufer der RAF. Kraushaar legt Indizien vor, die diese Gruppen in Verbindung mit PLO und Fatah bringen.
Und auch wenn Kraushaar in seinem Buch und im Rahmen seines Vortrags spannende Ausführungen und eine Fülle von Hinweisen, Spuren und Indizien ausbreitete, verwies er immer wieder darauf, dass er aufgrund seiner Rekonstruktion zwar zu bestimmten Schlussfolgerungen komme, dass er mit seinem Buch aber nur »eine Hypothese formuliert habe und diese Hypothese kein Beweis ist«.
Für den Historiker Dan Diner, der die einleitenden Worte an diesem Abend sprach, ist es Kraushaar mit seinem Buch gelungen, die Affinität zwischen den terroristischen Taten und einer linksradikalen Stimmung der 70er-Jahre plausibel nachzuzeichnen. »Mit diesem Buch hat er ein Ereignis der Vergessenheit entrissen«, war sich Diner sicher, der Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem und am Historischen Seminar der Universität Leipzig ist sowie das Simon-Dubnow-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur leitet.
fazit Für Rachel Salamander, die als Moderatorin durch die Lesung führte und die den Abend mit ihrer Literaturhandlung, dem IKG-Kulturzentrum und der Landeszentrale für politische Bildung organisiert hatte, blieben nach dem Vortrag von Wolfgang Kraushaar viele Fragen offen. Nichtsdestoweniger legte sie am Ende der Lesung den Zuhörern die Lektüre des fast 900 Seiten starken Buches wärmstens ans Herz – nicht zuletzt auch darum, weil es unglaublich sei, wie dadurch eine »Zeit wiederaufersteht, in der man selbst Zeitzeuge war«, so die Inhaberin der Literaturhandlung.