Mit »Freude und geehrt« hieß am Montagabend Oberbürgermeister Fritz Kuhn die Gäste zur Eröffnung der Jüdischen Kulturwochen Stuttgart 2016 im großen Rathaussaal willkommen. Sie seien ein Angebot an alle Stuttgarter, so Kuhn. Auch das sei ein Grund, weshalb die Stadt die Kulturwochen, »die wir wollen und brauchen«, zur Hälfte mitfinanziere.
Der Andrang zur Eröffnungsveranstaltung war in diesem Jahr besonders groß. Unter den Gästen befanden sich neben mehreren Rabbinern viele Vertreter aus Politik und Kirche sowie der Unternehmer und Oberhaupt des Hauses Württemberg, Carl Herzog von Württemberg.
religionen »Stuttgart wehrt sich offen gegen die Ausgrenzung anderer Religionen«, sagte Oberbürgermeister Kuhn. Sein Credo, niemand solle in dieser Stadt ausgegrenzt werden, bekräftigten die Gäste mit Beifall. Damit das auch wirklich gelingt, habe sich die baden-württembergische Landeshauptstadt für den sogenannten Stuttgarter Weg entschieden. Mehr als 8500 Flüchtlinge leben derzeit in Stuttgart. Sie wohnen nicht in Massenunterkünften, sondern in kleineren Einheiten, wo sie von ehrenamtlichen Helfern betreut werden.
»Schon seit Jahrzehnten leben in Stuttgart Menschen aus über 170 Nationen friedlich zusammen«, so der OB. Doch er verhehle nicht, dass Integration ein schwieriger Prozess sei, und er verstehe die Ängste in der jüdischen Community gegenüber Flüchtlingen aus dem arabischen Raum. Eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen aus diesem Gebiet wolle er dennoch nicht. »Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Integration Hineinführen heißt«, sagte Kuhn. Die Wurzel des Wortes stamme von »integrare«, das bedeute: erneuern, von neuem beginnen, geistig auffrischen. Die Würde eines jeden Menschen sei unantastbar, die Grundwerte der Verfassung ständen nicht zur Diskussion. »Wer in Stuttgart anfangen würde, gegen jüdische Menschen zu hetzen, der greift alle in Stuttgart an«, betonte das Stadtoberhaupt.
Antisemitismus Zuversicht und Skepsis, Erinnern und Mahnen: Auch das Leben der Jüdischen Gemeinde Stuttgart bewegt sich mehr denn je zwischen Polen. Denn »antisemitische Vorurteile haben Konjunktur«, sagte Barbara Traub, Vorstandssprecherin der IRGW, an diesem Eröffnungsabend. Mit dem Motto der Kulturwochen »Tendenzen der Ausgrenzung – neue Herausforderungen für die jüdische Kultur in Europa« wolle man einen Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsdebatte über den Punkt hinaus leisten, dass Mitglieder der IRGW gemeinsam mit der evangelischen Kirche in Stuttgart Flüchtlinge im Stuttgarter Westen betreue, so Traub.
»Jüdisches Leben darf nie mehr im Stich gelassen werden«, sagte Manfred Lucha als Vertreter der Landesregierung im Rathaussaal. Der Minister für Soziales und Integration kündigte an, den 2011 ins Leben gerufenen »Runden Tisch Islam« zu einem »Runden Tisch der Religionen« zu erweitern.
»Jüdische Kulturwochen sind dringender denn je«, sagte Mark Dainow. Weltweiter Bedrohung sei man sich seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York bewusst. Eine neue Dimension aber sei mit dem Terror in Europa entstanden, so der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Bewegungen wie Pegida oder Parteien wie die AfD richteten ihren Hass vornehmlich auf Muslime, doch diese intolerante Stimmung könne sich ganz schnell auf andere Minderheiten richten, mahnte Dainow.
Diskussionen Zwei Wochen sind die Bürger der Stadt Stuttgart eingeladen, sich über jüdische Kultur zu informieren, sich ein Bild zu machen, wie Juden leben, bei Gesprächen und in Diskussionen in einen Dialog zu treten, mögliche Vorurteile zu überprüfen und durch Wissen zu ersetzen, um dem Antisemitismus entgegenzuwirken.
Denn »der neue Antisemitismus ist der alte Antisemitismus in sublimierter Form«, warnte der Herausgabe der Wochenzeitung »Die Zeit«, Josef Joffe, in seinem Vortrag am Montagabend. Seit dem 18. Jahrhundert habe der rassistische Antisemitismus den religiösen abgelöst, der seit Gründung des Staates Israel zu einem antiisraelischen Antisemitismus mutiert sei, so der Publizist.
Antisemitismus sei – könnte man den Psychoanalytiker Sigmund Freud befragen – am ehesten ein Reflex. Sind also alle jüdischen Kulturwochen wirkungslos? Die Welt habe sich verändert, die Schwarzen in Amerika seien integriert, Schwule dürften heiraten, Frauen würden nicht mehr als Hexen verbrannt. »Und die Juden haben es auch geschafft«, gab sich Joffe ironisch und zuversichtlich. »Israel hat weltweit diplomatische Beziehungen zu 157 Ländern. Das Kind, das bei der Geburt fast erstickt ist, kann seine Zukunft mit Gelassenheit sehen.«
Die Jüdischen Kulturwochen Stuttgart 2016 in Kooperation mit 18 Partnern finden noch bis 20. November statt.
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