In der schnelllebigen Zeit von heute fühlen sich Menschen schnell abgehängt. Werte wie Rücksichtnahme und Stärkung von Schwächeren gewinnen daher eine ganz besondere Bedeutung. Das gilt vor allem für Menschen mit Behinderung. Wie die jüdische, muslimische und christliche Religion mit behinderten Menschen umgeht und sie in ihr gesellschaftliches System integriert, ver- suchte eine Tagung zu beantworten, zu der die Jüdische Volkshochschule Frankfurt, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sowie die Evangelische Kirche in Frankfurt und Offenbach Anfang Mai in Frankfurt eingeladen hatten.
Die Organisationen waren in der Tagungsstätte Ökumenisches Zentrum der Christuskirche mit Informationsständen vertreten. Neben dem Diakonischen Werk und dem Verein »Islamische Informations- und Serviceleistungen« stellte sich auch das »Atelier Eastend« vor. Die im Frankfurter Ostend angesiedelte inklusive Kunstwerkstatt steht nicht nur Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung offen. »Jeder, der Lust hat, mit uns Kunst zu machen, kann kommen«, sagt Leiterin Corinna Roßkopf.
schöpfungsgeschichte Das Thema der Tagung wurde aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert. Über die theologische Perspektive sprachen der Darmstädter Gemeinderabbiner Jehoschua Ahrens, die Frankfurter Pfarrerin Gisela Egler-Köksal sowie Ertugrul Sahin vom Zentrum für Islamische Studien der Goethe-Universität Frankfurt. »Wir sehen am Anfang, in der Schöpfungsgeschichte, dass wir alle im Ebenbild Gottes erschaffen sind«, sagte Jehoschua Ahrens. Er wies auf die Verantwortung füreinander, auch Schwächeren gegenüber, hin.
Ertugrul Sahin machte auf die prinzipiellen Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Islam in dieser Frage aufmerksam. Die beiden Religionen teilen unterdessen auch eine lange medizinische Tradition. Jehoschua Ahrens verwies auf mehrere Stellen in der rabbinischen Literatur, die von Krankheit und Behinderung handeln und zur Hilfestellung anleiten. »Medizin und Technologie sollen immer dazu verwendet werden, Menschen zu heilen und ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen«, betonte Ahrens. Als Beispiel nannte er eine rabbinische Entscheidung, die hörgeschädigten Menschen erlaubt, ihr elektronisches Hörgerät auch am Schabbat zu verwenden.
Trialog Für einen besonderen interreligiösen Trialog sorgten im Anschluss Irith Gabriely, Thomas Wächter und Abuseyf Kinik. Die Musiker interpretierten unter anderem eine Sonate von Johann Sebastian Bach. Die barocken Orgelklänge reicherten sie mit Klarinette und Percussion sowie arabischen Gesängen an. Die Musiker trugen zudem ein sefardisches Gebet vor. Spätestens mit dem Lied »Hevenu Schalom Alechem« rissen sie das Publikum mit.
Im Fokus der zweiten, von Bärbel Schäfer moderierten Podiumsdiskussion stand Inklusion aus Sicht jüdischer, christlicher und muslimischer Verbände und Organisationen. Said Barkan, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Hessen, benannte den oftmals mangelnden barrierefreien Zugang zu Moscheen als eine große Herausforderung. Er beklagte zudem das Fehlen eines muslimischen Wohlfahrtsverbandes.
Tabu In der jüdischen Gemeinschaft sei die Inklusion von Menschen mit Behinderungen lange kein zentrales Thema gewesen, berichtete Dinah Kohan, Leiterin des ZWST-Inklusionsprojekts »Gesher – Die Brücke«. Vor allem in der ehemaligen Sowjetunion, aus der die Mehrzahl der Gemeindemitglieder stammt, sei das Thema ein Tabu gewesen. Kohan sprach sich für nachhaltige und feste Strukturen für die Inklusion aus. Bisher finanziere die »Aktion Mensch« die einzelnen Vorhaben.
Als inklusive Projekte erwähnte Kohan den Aufbau von Selbsthilfegruppen in den Gemeinden sowie ZWST-Freizeiten für Menschen mit Behinderung. Die engagierte Diskussion machte trotz aller Unterschiede deutlich, dass in allen Religionsgemeinschaften Defizite in der Inklusion bestehen. Sigrid Unglaub vom Diakonischen Werk für Frankfurt und Offenbach stellte fest, dass sich nur wenige Menschen mit dem Thema beschäftigen. Menschen mit Behinderung hätten keine politische Lobby, sagte Said Barkan. Dinah Kohan mahnte zur Geduld: »Es braucht ein ruhiges, beharrliches Tempo.«
Das Projekt »Gesher« der ZWST bietet regelmäßig Freizeiten für Familien mit behinderten Kindern an.
Ebenfalls Anfang Mai hatte das Projekt Gesher zu einer solchen Freizeit Familien nach Bad Sobernheim eingeladen. »Hier können wir loslassen«, freut sich eine 43-jährige Mutter. Denn ihre alltäglichen Erfahrungen mit ihrem schwerbehinderten Sohn sind alles andere als gut: Überall, wo sie sich mit ihrer Familie aufhalte, werde sie ausgeschlossen. Beim Familien-Schabbatwochenende in Bad Sobernheim fühlt sie sich hingegen wohl. Dort werden sie und ihre Familie offen empfangen. »Wir sind hier wie jeder andere auch.«
Während die Eltern einmal ganz in Ruhe die Synagoge besuchen können, an Entspannungsübungen und Vergnügungen teilnehmen und dem Vortrag über Autismus zuhören, wird ihr elfjähriger Sohn gemeinsam mit den anderen Kindern von den Madrichim betreut. Die Eltern wissen, dass sie sich in dieser Zeit nicht um ihn kümmern müssen. 15 weitere Kinder mit ihren Familien nehmen an diesem Mai-Wochenende teil.
Die Einschränkungen der Kinder sind höchst unterschiedlich: Die einen leiden unter einem Aufmerksamkeitsdefizit, eines am Asperger-Syndrom, einer leichteren Form von Autismus. Der Sohn der 43-Jährigen ist mit dem Williams-Beuren-Syndrom auf die Welt gekommen, einer Beschädigung des siebten Chromosoms. Die Behinderung entsteht während der Schwangerschaft durch eine spontane Genmutation. »Er ist ein fröhlicher, offener Junge und singt sehr gern«, beschreibt ihn die Mutter. Aber der Behinderung entsprechend sei er entwicklungsverzögert und habe Probleme mit dem Herzen und der Lunge. Er besucht in Baden-Württemberg eine Inklusionsschule.
Austausch Nun kann die Familie die Sorgen für ein Wochenende in den Hintergrund schieben. »Wir waren schon mehrmals bei einem solchen Wochenende und sind absolut begeistert.« Auch bei den Mahlzeiten sitzen die Kinder und Jugendlichen an getrennten Tischen, so haben die Eltern die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen.
»Jede Familie hat eine Besonderheit«, hat die 43-Jährige festgestellt. Für ihren Sohn hofft sie, dass er in ihrer Heimatstadt demnächst das jüdische Jugendzentrum besuchen kann und dort willkommen ist. Außerdem soll er in zwei Jahren Barmizwa werden. Auch Hanna Veiler genießt die Tage in Bad Sobernheim.
Die 20-jährige Studentin aus Tübingen betreut als Madricha die Kinder. Sie ist Teil des siebenköpfigen Teams, das sich um die Kinder kümmert. »Alle sind gleich, und alle werden gleichbehandelt.« Am meisten Spaß hatten sie bei den Proben und der Aufführung des Theaterstücks, in dem alle Kinder eine Sprechrolle hatten. Quintessenz des Stückes war: Es ist derjenige reich, der ein gutes Herz hat. Ein Graffiti-Künstler zeichnete und sprayte gemeinsam mit den Kindern. »Die Kinder sind gut gelaunt und toben herum«, sagt Hanna zufrieden.
Experten »Die Freizeiten sind deshalb so wichtig, weil sich die Eltern – sie sind schließlich die Experten – mit Gleichgesinnten austauschen können«, sagt Dinah Kohan. Gleichzeitig sehen sie aber auch, dass ihre Kinder in einer sie wertschätzenden Umgebung über Ressourcen verfügen und Kompetenzen entwickeln, die ihnen möglicherweise zunächst nicht zugetraut wurden. Besonders deutlich zeigt sich das immer wieder in der Schauspielaufführung.
Gesher hat sich die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in die jüdische Gemeinschaft und die deutsche Gesellschaft zum Ziel gesetzt. Seit mehreren Jahren bietet es Mini-Machanot an. Dabei steht die Unterstützung von Angehörigen und die Selbsthilfe im Mittelpunkt. Das Projekt wird darüber hinaus von der Aktion Mensch gefördert.
www.zwst.org/de/menschen-mit- behinderung/selbsthilfegruppen