In dieser Woche wird der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung begangen. Damit es nicht beim Lippenbekenntnis bleibt, organisiert eine Gruppe junger Leute aus der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) noch bis 9. Mai eine Inklusionswoche. Eröffnet wurde die Reihe der Veranstaltungen und Workshops von Barbara Traub.
»Ich freue mich, dass das junge Judentum sich nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für die Gesellschaft interessiert«, bekannte die Vorstandssprecherin der IRGW in einem Zoom-Auftakt. Noch vor wenigen Monaten hätte sie gesagt, dass Deutschland »auf einem sehr guten Weg« in Sachen Inklusion sei.
Doch seitdem Corona neben aller Solidarität von Menschen auch Rücksichtslosigkeit, ja, sogar Schonungslosigkeit der Corona-Leugner gezeigt habe, könne sie sagen, Teilhabe sei das Ziel – der Weg zur vollständigen Umsetzung noch lang. Denn Inklusion fordere eine geistig reife Gesellschaft.
Ausgrenzung Als Psychotherapeutin mit einem breit gefächerten Erfahrungshorizont wies Barbara Traub darauf hin, dass Behinderung und Einschränkung nicht nur angeboren seien, sondern auch im späteren Lebensalter eintreffen könnten. »Das betrifft uns also alle«, betonte Traub.
Ein Blick zurück in ihre beruflichen Anfangsjahre auf der »Alm« in Wien ließ die Zuhörer erschauern. Ihrer Rechte und Würde beraubt, lebten die zwangseingewiesenen Patienten außerhalb der Gesellschaft. »Alle Monate einmal kam ein ›Transport‹, der auch so genannt wurde, Patienten wurden auf ›Transportlisten‹ gesetzt«, erzählte Barbara Traub.
Erst 1978 wurden Zwangsmaßnahmen für psychiatrische Patienten verboten.
Erst die Reformen des italienischen Psychiaters Franco Basaglia (1924–1980) änderten die Sichtweise auf psychiatrische Patienten. Italiens »Irrenanstalten«, wie Hochsicherheitstrakte geführt, wurden 1978 aufgelöst, die sogenannte offene Psychiatrie umgesetzt.
»Seitdem hat sich sukzessive viel geändert«, sagte Traub. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenkonvention ratifiziert. Ihr Leitbild ist Inklusion. »Wir müssen für eine offene Gesellschaft kämpfen, damit es keine Rückschläge gibt«, forderte Barbara Traub alle Zuhörer auf.
gehörlos 2007 feierte Rabbiner Fred Friedman mit 30 Gehörlosen aus aller Welt das Pessachfest in Berlin. Die »Jüdische Allgemeine« berichtete damals darüber. In Deutschland sei es schwieriger als in seiner amerikanischen Heimat, als jüdischer Gehörloser zu leben, so Friedman, selbst gehörlos. Etwa 5000 gehörlose Juden leben in den USA, in Deutschland nur etwa 100. Trotzdem müssen sie wahrgenommen werden.
Die Inklusionswoche der IRGW wird am Donnerstag, den 6. Mai, einen virtuellen Workshop (12.30 bis 14 Uhr) anbieten. Sehr differenziert – für jedermann im Internet zugänglich – stellt die Berliner Juristin, Pädagogin und Familientherapeutin Rachel Herweg Bilder von Behinderung aus jüdischer Sicht und ihre Verwurzelung in der Halacha dar: Schon das frühe rabbinische Judentum erhob in seiner Gesetzgebung die soziale Fürsorge für Schwache und Arme zu einer religiösen Pflicht (Zedaka), erklärt sie.
Nach jüdischer Lehre ist der Mensch eine unteilbare Einheit aus Körper und Seele.
Bedürftige haben einen Anspruch auf Unterstützung ohne Demütigung und Beschämung und weitestgehende Selbstständigkeit. Nach jüdischer Lehre ist der Mensch eine unteilbare Einheit aus Körper und Seele.
Der aus Deutschland stammende israelische Pädagoge Shimon Sachs (1922–1989) wies darauf hin, dass »in der biblischen und talmudischen Zeit die verschiedenen Behinderungen bekannt und wahrgenommen wurden und Teil des Ganzen seien. »Jüdische Gemeinden haben auch in ihren schwersten Tagen – selbst in den Zeiten des Holocaust – immer die behinderten Menschen in ihrer Mitte betreut, mitgenommen und sie niemals ihren Feinden ausgeliefert«, schrieb Sachs in einem Essay.
Basis und Leitbild des Handelns der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) ist seit ihrer Gründung 1951 die Zedaka, wichtiges Standbein der sozialen Arbeit ist die Integration von Juden mit Behinderung. Ihrer Zählung nach leben in Deutschland etwa 1000 Menschen mit einer geistigen Behinderung. Und offenbar ist die jüdische Gemeindepraxis verstärkt darum bemüht, das theoretisch gebotene unterstützende Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten einzuholen.
Zusammenleben Ariella Naischul (18) und Hanna Veiler (23), die beiden Hauptorganisatorinnen der Stuttgarter Inklusionswoche, haben durchaus Erfahrungen mit dem inklusiven Zusammenleben aus dem Stuttgarter Jugendzentrum wie auch aus Freizeiten. »Wir wollen auch in unseren Gemeinden keine Idealgesellschaft konstruieren, aber jeder kann sich einbringen«, wirbt Barbara Traub für inklusives Leben. Die ZWST biete Ausbildungen an, die sich auf Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen und auch auf Menschen mit Demenz beziehen.
Traub weist zudem auf kürzlich vollendete Umbaumaßnahmen im Stuttgarter Gemeindezentrum hin. »Mit einem Aufzug haben wir einen barrierefreien Zugang zu Synagoge und Gemeindezentrum geschaffen«, sagt die Vorstandssprecherin der IRGW. Auf die Frage eines Zuhörers, warum es bisher aber keine barrierefreie Toilette im Haus gebe, versprach Barbara Traub auch in diesem Fall bauliche Veränderungen.
Weitere Infos zur Inklusionswoche unter: www.irgw.de