Herr Dirks, im Auftrag der BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) haben Sie das Buch »Aus Rot wird Braun. Die BVG nach 1933« geschrieben. Wie kam es dazu?
Das Buch ist das Folgeprodukt einer gleichnamigen Ausstellung, die 2013 im Themenjahr »Zerstörte Vielfalt« lief. Damals bin ich auf die »Forschungslücke BVG« gestoßen und habe im U-Bahnhof Alexanderplatz in Kooperation mit der BVG eine Ausstellung präsentiert. Danach haben wir die Recherchen ausgeweitet.
Mit welcher Fragestellung?
Die BVG wurde 1929 gegründet. Bis zur Machtergreifung der Nazis galt sie als sozialdemokratischer Vorzeigebetrieb – viele Sozialdemokraten und Kommunisten arbeiteten in dem Unternehmen. Aber ab 1933 wurde daraus in wenigen Monaten ein nationalsozialistischer Musterbetrieb – ein rasanter Prozess. Wir wollten der Frage nachgehen, welche Mechanismen sich dabei erkennen lassen.
Was haben Sie herausgefunden?
Die Bedeutung der BVG war den Nazis schnell klar. Der Betrieb hatte teilweise rund 28.000 Mitarbeiter. Da galt es, ihn unter seine Einflussnahme zu bringen. Man hat einen Staatskommissar eingesetzt, Julius Lippert, der zum Verwaltungschef aufstieg. Johannes Engel, ein »alter Kämpfer« der NSDAP, war Aufsichtsratsvorsitzender und zugleich Staatskommissar für Verkehrswesen in Berlin. Er war verantwortlich für massenhafte Entlassungen von etwa 3000 Mitarbeitern.
Wie funktionierte das Unternehmen dann?
Es wurden Gefolgsleute der Nazis eingestellt, es gab eine betriebseigene Gestapo. Diese Phase charakterisiert das Prinzip »Zuckerbrot und Peitsche« – hier die Mischung aus sozialen und materiellen Anreizen, dort Repressionen und Verfolgung.
Sie haben in Ihrem Buch das Schicksal eines Schaffners aufgearbeitet, der einen jüdischen Vater hatte. Was widerfuhr ihm?
Georg Speyer war ein einfacher BVGler der ersten Stunde. Als sogenannter »Mischling ersten Grades« wurde er 1936 entlassen, seine Dienstwohnung in Britz wurde ihm gekündigt. Später musste er in Frankeich Zwangsarbeit leisten.
Kehrte er in seine Heimat zurück?
Ja, und er wurde wieder bei der BVG vorstellig. Er hat einen anrührenden Brief geschrieben, in dem er um eine Wiederanstellung bittet, weil ihm die Arbeit bei der BVG immer viel Freude bereitet hat. Man stellte ihn wieder ein.
Rabbiner Andreas Nachama schreibt im Vorwort zum Buch, dass seine Mutter nach der Schoa noch lange Problem hatte, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Es gab während der Nazi-Zeit unzählige Verordnungen, die Juden diskriminierten – da bildete die BVG keine Ausnahme. Sie war wichtig, um die Berliner von A nach B zu bringen, und immer mehr Menschen mussten Zwangsarbeit in den Rüstungsbetrieben leisten. Die BVG war zugleich Dienstleister und Peiniger. Juden durften zunächst zwar weiterhin die Verkehrsmittel benutzen, mussten ihren Platz im Zweifel aber für »Arier« räumen. Später wurde ihnen dann das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln gänzlich verboten. Die BVG war ein Teil des Repressionsapparates.
Erst nach 70 Jahren ließ die BVG ihre Geschichte aufarbeiten. Ist sie damit Vorreiterin – oder hinkt sie eher hinterher?
Bei den Verkehrsbetrieben in Hamburg und Hannover gibt es ähnliche Studien. Als größtes kommunales Logistikunternehmen der damaligen Reichshauptstadt nimmt die BVG aber eine besondere Rolle ein. 2010 stießen wir bei Recherchen zu einer Ausstellung mit dem Titel »Auf dem Dienstweg« auf Georg Speyer – dabei ging es um Verfolgung von Bediensteten in Berlin mit dem Fallbeispiel BVG. Wir stellten fest, dass zur BVG keine Forschung vorhanden war. 2013 hat dann auch die BVG die Chancen des Projektes erkannt und sich offensiv ihrer Vergangenheit gestellt.
Warum erst so spät?
Kein Unternehmen kann es sich mehr leisten, seine Geschichte nicht aufarbeiten zu lassen. Man kann nur gewinnen, wenn man sich dem stellt, auch wenn negative Aspekte beleuchtet werden. Das ist auch die Erfahrung, die wir bei der Ausstellung gemacht haben.
Welche Reaktionen haben Sie erlebt?
»Mensch, das gibt es gar nicht, dass sich die BVG das traut« – diesen Kommentar hören wir oft. Das wird respektiert. Aber anfangs tat sich auch die BVG schwer damit, die eigene Geschichte erforschen zu lassen. Der jetzt erfolgte Schritt, sich den Traditionslinien innerhalb des Betriebes zu stellen, verdient Respekt. Weitere Studien werden folgen.
Mit dem Historiker sprach Christine Schmitt.