Sie kamen aus zahlreichen Städten und Gemeinden, unterhielten sich in verschiedenen Sprachen, waren fromm oder säkular und hatten unterschiedliche Erwartungen im Gepäck. »Meine Koffer waren leer, als ich hier eintraf«, sagt Maria. »Jetzt sind sie proppenvoll.« Mit jeder Menge Eindrücken, Anregungen und Gedanken.
28 jüdische Studenten hatten sich wie Maria zur fünftägigen Sommerakademie der Bildungsabteilung im Zentralrat angemeldet, die in diesem Jahr in Frankfurt stattfand und unter dem Motto »Alles koscher? Jüdisch leben in der modernen Welt« nach der Vereinbarkeit eines »religiösen Lebens mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft« fragte.
Dabei hatten sich die Organisatoren – die beiden Leiter der Bildungsabteilung, Diplom-Pädagogin Sabena Donath und Doron Kiesel, Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Fachhochschule Erfurt, sowie Professor Frederek Musall von der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg – überlegt, dieses Thema in »konzentrischen Kreisen« anzugehen, um das Private, die Gemeinde und die Gesellschaft zu beleuchten.
Vor allem aber hatten sie etliche Experten als Referenten eingeladen, darunter mehrere Rabbiner, die die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Judentums repräsentierten, was von den Teilnehmern als Bereicherung und Chance zu interessanten Begegnungen gesehen wurde.
ausflug So räumte Maria beim Abschlussgespräch ein, dass sich ihre Vorbehalte gegenüber der Orthodoxie verringert hätten seit sie Rabbiner Halevi Klein kennengelernt habe. Ein Ausflug in die Frankfurter Gemeinde mit gemeinsamem Mittagessen mit ihm stand am vergangenen Mittwoch auf dem Programm.
Anschließend ließ Klein Maria ausrichten, dass er sie gerne noch einmal treffen würde, ihre hartnäckigen Fragen hätten ihn so gefordert, dass er glaube, ihr noch eine umfassendere Antwort schuldig zu sein.
Safir wiederum erklärte, sie habe sich nie für das liberale Judentum interessiert: »Aber Rabbinerin Elisa Klapheck hat mich sehr beeindruckt. Ich möchte jetzt mehr über das Reformjudentum wissen.« Klapheck leitet in Frankfurt den Egalitären Minjan.
Modell Überhaupt galt die Frankfurter Gemeinde in dieser Woche als Modell für jüdisch-religiöses Leben in einer modernen Gesellschaft. So berichtete Daniel Korn von seinen Erfahrungen als langjähriger Gabbai in der Westend-Synagoge.
Rabbiner Julian-Chaim Soussan, zuständig vor allem für die Kinder und Jugendlichen in der Gemeinde, gab praktische Lebenshilfe, so wie es ein Rabbiner mit einem Brautpaar kurz vor der Chuppa tut: »Wir leben in einer Zeit der totalen Veröffentlichung. Warum können wir da nicht unser spezifisch jüdisches Wissen zum Thema Liebe, Partnerschaft und Sexualität einbringen?«, fragte Soussan und traf damit genau den Nerv seiner Zuhörer. Seine lockere, humorvolle Art, selbst heikle oder peinliche Fragen anzugehen, nahm dem Gespräch in großer Runde jede Befangenheit.
Toleranz Die Rabbiner Klein und Klapheck wiederum führten den Studenten vor, dass unterschiedliche Auffassungen in Glaubensfragen nicht zwangsläufig zu Streit und gegenseitiger Ablehnung führen müssen. »Ich fahre mit dem beruhigenden Gefühl nach Hause, dass Toleranz im Judentum einen sehr großen Stellenwert besitzt«, kommentierte ein Teilnehmer.
»Mehr Partizipation!«, hatten sich die jungen Leute gleich am ersten Tag gewünscht. Und von diesem Recht machten sie auch reichlich Gebrauch. Selten hat man eine Gruppe so aufgeschlossen und engagiert diskutieren sehen. Für die Leiter der Akademie Glück und Fluch zugleich: Einerseits freuten sie sich, wie unbefangen und großem Respekt die Studenten mit den Referenten ins Gespräch kamen.
Andererseits machte diese Debattierlust es Kiesel und Donath unmöglich, ihren Zeitplan einzuhalten. Und es stand noch viel auf dem Programm: Rabbiner Avichai Apel aus Dortmund sprach über »Judentum – eine Frage des Glaubens?«, Christian Wiese von der Goethe-Uni Frankfurt versuchte, den Punkt zu bestimmen, an dem die »berechtigte Sehnsucht nach einem stabilen Fundament in Fundamentalismus« umschlägt.
Rabbiner Shaul Friberg erzählte von den unterschiedlichen jüdischen Lebenswelten, die er als Rabbiner in verschiedenen Ländern kennengelernt habe. Aber auch Aspekte wie »Volk des Buches – Volk des Facebook« und »Jewish Life Styles – zwischen Tefillin und Pop« waren Themen.
Speed-Dating Bei einem »Speed-Dating« konnten die Teilnehmer im Zehnminutentakt Rabbiner zum Austausch über persönliche Fragen und Probleme treffen. Kein Wunder, dass sich mancher nach mehr »Zeit zur Besinnung« sehnte. Eine Akademie ist eben keine Machane, wie Jakob nüchtern feststellte: Nicht Party und Geselligkeit, sondern das Lernen stehe hier im Vordergrund.
Aber es lag auch ein Schatten über dieser Sommerakademie: die Nahost-Krise. Daher entschloss man sich kurzerhand, einen Abend diesem Thema zu widmen. Tuvia fasste für sich sein Erlebnis der Sommerakademie so zusammen: »Unheimlich viele Schattierungen und Strömungen des Judentums auf einem einzigen, winzigen Fleck«.