Das Gefühl der Gemeinschaft hat mich von früh an begleitet. Eine Kindheit ohne Hierarchien, umgeben von 200 Menschen, wo jeder jeden kannte. Ich bin im Kibbuz Beit Keshet – im Norden Israels in der Galil-Gegend – aufgewachsen, umgeben von Natur. Diese Geborgenheit hat mir zeitlebens Kraft gespendet und mich durch Zeiten getragen, als ich allein unterwegs war, um meinen Weg zu finden.
Als ich mit meiner Familie den Kibbuz verließ und wir nach Hod Hasharon zogen, in die Nähe von Tel Aviv, war ich 13 Jahre alt. Ich erinnere mich noch, was für ein Schock das war. Wenn man aus einer so engen Gemeinschaft kommt, ist das Leben in der Stadt ein echter Kulturschock.
jugendbewegung Um Anschluss zu finden, ging ich zur Hanoar Haoved, einer sozialistischen Jugendbewegung. Dort fand ich Gleichgesinnte und begann, jüngere Kinder zu betreuen. Nach der Highschool ging ich für drei Jahre zur Armee. Ich war kein Kampf-Soldat, folglich musste ich auch nicht mit dem Risiko leben wie viele um mich herum. Trotzdem fühlte es sich komisch an, eine Uniform zu tragen und Befehlen zu gehorchen. Umso älter ich wurde, desto abstrakter erschien mir diese Idee von Strukturen und Grenzen.
Meinen ersten Tanzunterricht erhielt ich im Alter von 21 Jahren, spät für einen professionellen Tänzer. Zum Glück hatte ich seit meinen 13. Lebensjahr Capoeira trainiert, einen brasilianischen Kampftanz. Während der Militärzeit trainierte ich an den Wochenenden. Eine gute Grundlage, die mir später als Tänzer zugutekam.
Dennoch fehlte mir lange der Mut, um richtig zu tanzen. Denn nach der Militärzeit wollte ich Kunst oder Architektur studieren. Meine Bewerbungsmappe war schon fertig, weil ich über viele Jahre nebenbei gezeichnet hatte. Innerlich war ich aber nicht ganz von meinem Vorhaben überzeugt.
zufall Die Wende in meinem Leben habe ich einem Zufall zu verdanken: Freunde nahmen mich spontan zu einem Tanzkurs nach Tel Aviv mit. Das war auf Anhieb etwas, womit ich mich identifizieren konnte. Nach dem Kursus fragte mich die Lehrerin, an welcher Tanzschule ich gelernt hätte, so zu tanzen. Ich antwortete: »Nirgendwo.«
Das war mein allererster Tanzunterricht! Sie konnte es kaum glauben, riet mir aber dringend, weiter zu tanzen. Sie vermittelte mir einen Kontakt zu einer Tanzschule, wo ich schon am nächsten Tag einen Termin zum Vortanzen erhielt. Obwohl mir viel an Technik fehlte, wurde ich aufgenommen. Ich blieb ein Jahr an der Maslool Bikurey Haitim in Tel Aviv. Dort musste ich die Grundlagen nachholen, die mir fehlten. Ich lernte klassisches und modernes Ballett, eine anstrengende Zeit.
Meine Eltern haben meine Berufswahl akzeptiert.
Irgendwann fand ich mich im zeitgenössischen Zirkus wieder. Ich wollte an einem Ort sein, wo ich tanzen konnte, aber auch eine Verbindung zu Capoeira and Martial Arts hatte. Der Sandciel Circus in Jerusalem war dieser Ort für mich. Als ich später an meiner Karriere als Choreograf arbeitete, erkannte ich, dass es viele Arten der tänzerischen Sprache gibt, die man auf der Bühne nutzen kann. Darüber verflog mein Frust, dass ich erst so spät zum Tanz gefunden hatte.
familie Meine Familie hat mich immer auf meinem Weg unterstützt. Mein älterer Bruder lebt – wie meine Eltern – in Israel. Meine Schwester ist Yoga-Lehrerin in Thailand. Meine Mutter leitet eine Hebammenstation in einem Krankenhaus, mein Vater ist professioneller Athletiktrainer, Schwerpunkt Sprint.
Durch ihn war ich von früh an mit dem Sport verbunden. In der Schule war ich immer ein sehr guter Schüler, vor allem mochte ich Mathe und Naturwissenschaften. Natürlich hoffte meine Mutter, dass ich einmal Arzt oder Wissenschaftler werde, damit sie ihren Freundinnen davon erzählen konnte. Aber sie haben meine Berufswahl akzeptiert und mich dann in meinen Vorhaben bestärkt.
Die Familie meiner Mutter kommt ursprünglich aus Ungarn, leider habe ich meinen Großvater nie kennengelernt. Beide Großeltern haben ihre Familie im Holocaust verloren. Die Seite meines Vaters hingegen lebt bereits seit zwölf Generationen in Israel. Ursprünglich kommen sie aus Spanien und wurden während der Inquisition vertrieben, wir wissen, dass sie seit ungefähr 200 Jahren in Israel leben. Mein Großvater Rafael Peled-Cohen war ziemlich religiös. Mein Vater wuchs in einem konservativen Haushalt auf, das war nicht leicht für ihn. Er verließ seine Familie früh und besuchte ein Militär-Internat. Später ging er als Offizier in die Armee.
BARMIZWA Den Schabbat haben wir zu Hause immer gefeiert, allerdings in einer eigenen Interpretation. Es gab absolut keinen Druck für uns. Als ich 13 Jahre alt war und meine Barmizwa machen sollte, stand mir nicht der Sinn danach. Auf Vorschlag meiner Eltern traf ich einen Reform-Rabbiner. Er sagte meinen Eltern schließlich, es sei völlig in Ordnung, wenn ich nicht zur Barmizwa wollte. Ich liebte es zwar, in der Bibel zu lesen, mir gefiel die Moral und die Weisheit der Geschichten, allerdings nicht im religiösen Sinn. Der Rabbi hatte das verstanden, und so wurde es auch von meiner Familie akzeptiert.
Meine traditionellen Großeltern kannte ich gut, wir besuchten sie oft in den Ferien. Vor allem hatte ich einen guten Draht zu meiner Großmutter Tova, die Malerin war und mich an die Kunst herangeführt hat. Sie war eine gebürtige Toledano, ihre Vorfahren waren während der Inquisition aus Toledo über den Balkan geflohen, über Bulgarien gelangten sie vor ungefähr 100 Jahren nach Israel.
Die Familie meiner Mutter hingegen kam während des Zweiten Weltkriegs nach Israel. Alle Großeltern sind inzwischen gestorben. Durch meine mütterliche Seite besitze ich heute einen ungarischen Pass.
schnittstelle Vor acht Jahren kam ich nach Europa, auf der Suche nach Institutionen an der Schnittstelle zwischen Tanz und Zirkus. Ich tanzte bei verschiedenen Kompanien vor und wurde in Hannover aufgenommen. Damals besaß ich noch keinen europäischen Pass, so erhielt ich zunächst ein zweijähriges Arbeitsvisum.
Freunde lebten in Berlin, die habe ich besucht. Mir gefiel der Platz und die Großzügigkeit – im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Deutschland oder in Israel. Auf der anderen Seite gibt es das Nachtleben, die vielen Kieze, wo es überall etwas zu entdecken gibt. Die Mischung aus Kulturen und die Vielfalt der Architektur inspirierten mich. Ich mochte das Chaos, es war nicht so sauber, wie etwa in München oder Hamburg. Als Queerer und als Künstler ist Berlin auf jeden Fall eine Stadt, wo es sich gut aushalten lässt.
Generell sind die Menschen in Deutschland sehr respektvoll, ich habe nie Gewalt erlebt. In Berlin ist jeder ein Alien, jeder ist irgendwie anders. Da muss man sich nicht fremd fühlen. Viele verschiedene Gesellschaftsformen sind möglich. Etliche meiner Generation wurden in diese Diversität hineingeboren, die für die Generation zuvor noch undenkbar war. Mein Umfeld vereint Menschen unterschiedlichster Herkunft. Natürlich habe ich viele Künstler um mich. Noch heute brauche ich ein Netzwerk, um mich wohlzufühlen.
choreograf Tanz ist für mich alles. Seit vier Jahren mache ich meine eigene Arbeit als Choreograf, vorher habe ich für andere Kompanien getanzt. Ich brauche meine eigene Ausdrucksweise, eine Schnittmenge aus zeitgenössischem Tanz und Kampfkunst. Meine Arbeit ist sehr physisch, ich komme an den Punkt der Erschöpfung, der Katharsis.
Die Welt der Martial Arts ist mir wichtig. In einigen meiner Stücke mische ich Reminiszenzen aus Capoeira, Kung-Fu und Wrestling.
Die Welt der Martial Arts ist mir wichtig. In einigen meiner Stücke mische ich Reminiszenzen aus Capoeira, Kung-Fu und Wrestling. Die Künstler bringen ihre Fähigkeiten mit, und wir erarbeiten die Stücke gemeinsam. In meiner Company gibt es rund zehn Leute, und jedes Jahr erarbeiten wir eine neue Produktion, auf der Bühne sind zwei bis fünf von ihnen zu sehen.
Zwei Monate lang war ich in der Fabrik Potsdam als Teil des Programms »explore dance«. Mit unserem Stück besuchen wir Partnerstädte wie Hamburg und München. Die Idee des Programms ist, die Welt des Tanzes einem jüngeren Publikum vorzustellen. Dabei geht es um Tanzstücke, zu denen die Schüler nicht unbedingt in ein Theater kommen müssen. Wir kommen auch zu ihnen an die Schulen.
Ich denke, ich bin langsam angekommen. In meinem Leben bin ich oft umgezogen, und durch meine Arbeit reise ich viel. Zu Hause, diese Idee hat sich sehr für mich verändert. Berlin kommt am meisten an so etwas wie ein Zuhause heran. Im Wesentlichen hängt es aber mehr von den Menschen ab, die mich umgeben, als von einem Ort.
Aufgezeichnet von Alicia Rust