Fast 19 Jahre lag er in einer Kiste, hat mehrere Umzüge quer durch Deutschland mitgemacht – vor zwei Wochen packte Rabbiner Konstantin Pal den schmalen Gebetsschal aus festem Stoff und in Fleckentarn aus, um ihn für diesen Tag vorzubereiten.
Jetzt liegt der Tallit – einmal in der Mitte gefaltet und sorgfältig glatt gestrichen – auf dem hüfthohen, dunkelbraunen Tisch neben dem Rednerpult. Vor wenigen Momenten ist Konstantin Pal in der General-Olbricht-Kaserne durch eine religiöse Zeremonie in sein Amt als Militärrabbiner eingeführt worden.
Militärbundesrabbiner Zsolt Balla sprach ein Gebet für Soldatinnen und Soldaten, übergab Pal eine Urkunde, Rabbiner Andreas Nachama gab als Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz den Segen und überreichte Pal jenen Tallit, der, wie er erzählt, im Nachgang zu einem Praktikum bei der Militärseelsorge entstand. Pal hatte damals eine Aufgabe, die Geduld und Genauigkeit erfordert: Er musste die Zizit einfädeln.
GEDULD Auch seine neue Aufgabe wird diese Eigenschaften von ihm abverlangen: Geduld – beim Zuhören, beim Erklären. Genauigkeit beim Unterrichten. Der 44-jährige Pal wird die Militärseelsorge für jüdische und nichtjüdische Soldatinnen und Soldaten übernehmen und den sogenannten Lebenskundlichen Unterricht, eine berufsethische Qualifizierung, geben. So ganz neu sind diese Bereiche nicht, denn seit seiner Verbeamtung im Jahr 2022, als auch die staatliche Beauftragung stattfand, steht Konstantin Pal bereits mittendrin im Leben eines Militärrabbiners. »Die Arbeit geht weiter.«
Wie wichtig diese Arbeit ist, betont Angelika Günzel, die Leiterin des Militärrabbinats. »Die Praxis zeigt, dass die religiösen Fragen, die auftreten können, häufig sehr praktischer Natur sind.« Pal gelinge es, auf diese Fragen einzugehen. »Ich persönlich habe Sie als einen Menschen kennengelernt, der ein klares, eigenes, religiöses Profil hat, aber gleichzeitig aufgrund seines integrativen Wesens die in den Außenstellen zum Militärrabbinat notwendige, enge Zusammenarbeit aller Strömungen des Judentums« sehr gut zusammenführen könne. Einen besonderen Dank richtet Günzel auch an Konstantin Pals Frau Renate, die dies mittrage.
»Wie schön, dass Sie bei uns sind, Herr Pal.«
Angelika Günzel
Mit der Amtseinführung des Militärbundesrabbiners Zsolt Balla in der Brodyer Synagoge in Leipzig hatte im Juni 2021 der Aufbau der jüdischen Militärseelsorge in der Bundeswehr begonnen. Grundlage ist ein Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden von 2019. Zsolt Balla sagte in einem Interview ein Jahr nach seiner Amtseinführung: »Wir sind für jeden einzelnen Soldaten da, wenn er es wünscht.«
Und dieser Leitspruch gilt auch für die religiöse Amtseinführung von Konstantin Pal in sein Amt. »Wir sind heute hier, um für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zu arbeiten – uns um ihre Seele zu kümmern und für sie da zu sein.« Deswegen, erläutert Balla, dreht er das Programm ein wenig auf den Kopf und spricht zuerst das Gebet. Es folgen Sätze, die vor dem Hintergrund der aktuellen Weltlage schwer tragen. »Gʼtt in der Höhe, (…) schau herab von deinem heiligen Wohnort und segne die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und die Soldatinnen und Soldaten aller ihrer Verbündeten, die ihr Leben für den Frieden auf Erden riskieren. Sei ihr Schutz.«
ANSTECKER Und dann bringt Balla einen besonderen Anstecker an Pals Revers an. »In dieser Größe gibt es nur zehn, für die zehn zukünftigen Rabbiner – das ist natürlich Nummer eins.« Er ist blau, zeigt die beiden Gesetzestafeln, einen Davidstern und wird vom Schriftzug »Militärrabbinat« abgeschlossen. Den Tallit überreicht Rabbiner Andreas Nachama.
Aber zuvor gibt es einen Rat, den Nachama von seinem American Jewish Chaplain vor vielen Jahren bekommen hat. »Genau hinzuhören, weil Herzeleid, seelische Beschädigung, andere Hilferufe aus dem Inneren eines Menschen meist nur ein Mal geäußert werden. Wenn das offenbar nicht beachtet wird, dann frisst derjenige das in sich hinein.« Daher: »Konstantin, höre immer so genau und so intensiv zu, wie es gerade möglich ist. Und versuche immer, jemandem, der um deinen Rat fragt, zu helfen.«
Die Urkunde mit einem Gebet, das Pal mit auf den Weg bekommt, ist noch relativ jung. Erst in der vergangenen Woche hätten es die Rabbiner Avichai Apel und Zsolt Balla formuliert. Dunkel eingerahmt auf cremefarbenem Papier und mit blauer Schrift, hält Pal es nun in der Hand. Es ist wahr geworden, dass es nicht nur einen Militärbundesrabbiner gibt, sondern jetzt auch einen liberalen Militärrabbiner.
VISION »Lange Zeit schien es eine unerreichbare Idee, Vision oder Fantasie zu sein: eine jüdische Militärseelsorge für die Bundeswehr. Gleichberechtigt neben der katholischen und evangelischen Militärseelsorge«, sagt Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, in seiner Rede. Viele Jahre sei es für jüdische Eltern und Großeltern undenkbar gewesen, ihren Sohn, ihre Tochter, den Enkel oder die Enkelin als Soldaten in der Bundeswehr zu sehen.
»75 Jahre nach Ende der Schoa haben die Bundesregierung und die jüdische Gemeinschaft diesen historischen Schritt gewagt.« Die Amtseinführung Ballas sei ein bewegender Moment für die jüdische Gemeinschaft, für die Bundeswehr, letztlich für unsere demokratische Gesellschaft gewesen, betonte Botmann.
»Konstantin, höre immer so intensiv wie möglich zu.«
Rabbiner Andreas Nachama
»Dass wir heute einen weiteren Meilenstein beim Aufbau des Militärrabbinats feiern können, knüpft daran an.« Mit Pal werde der erste Militärrabbiner feierlich in sein Amt eingeführt. »Ich freue mich sehr, dass wir mit Ihnen, lieber Herr Rabbiner Pal, einen engagierten und erfahrenen Rabbiner für dieses Amt gewinnen konnten«, sagt Botmann und appelliert an Pal: »Sie sind nicht nur für die Seelsorge und die Wahrung der religiösen Gebote für die jüdischen Soldaten und Soldatinnen verantwortlich. Sie übernehmen auch Mitverantwortung für die demokratische und weltoffene Bundeswehr.«
JUDENTUM Und welches Verhältnis hat das Judentum zum Krieg, welches zum Frieden? Darüber denkt Pal in seiner Dankesrede nach. »Im Judentum wird Frieden als ein zentraler Wert angesehen. Der Talmud (…) betont die Bedeutung des Friedens und ermutigt, Frieden anzustreben und zu fördern.«
Aber auch das Judentum erkenne das Recht auf Selbstverteidigung an. Der Tanach sei voll von Beispielen, in denen sich das jüdische Volk gegen feindliche Angriffe zur Wehr setze. Dabei gelten strenge Regeln, nach denen ein gerechter Krieg geführt werden solle, erläutert Pal. »Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Schutz Unschuldiger stehen in Mittelpunkt.«
Die Ethik des Judentums, betont Pal, verbiete die sinnlose Anwendung von Gewalt und die Gefährdung von Menschenleben. Konflikte sollten friedlich gelöst werden – durch Politik und Dialog. Alle diplomatischen Mittel sollten ausgeschöpft werden. Dann blickt Konstantin Pal zum Gebetsschal, sieht ihn an und erinnert sich, wie alles begann – vor 19 Jahren. In eine Umzugskiste muss der Tallit hoffentlich nicht mehr – er ist angekommen.