So emotional wie möglich sollen sie musizieren. Und die Musikerinnen und Musiker des Grazer Ensembles »Art House 17« tun es. So erklingt das bittersüße Lied »Frag nicht, warum ich gehe« voller Melancholie. Die Sopranistin Hila Baggio gestaltet diese Melodie wunderbar stilsicher, bewegt mit einem Text, der vom Abschied erzählt und doch eigentlich nichts anderes zu sagen scheint als: »Bleib!« Das ist überwältigend schön.
Der Film-Song von Walter Reisch (Text) und Robert Stolz (Musik) ist eines jener Stücke, die an diesem Donnerstag beim Eröffnungskonzert des nun schon dritten Festivals »Shalom-Musik.Koeln« auf dem Programm stehen. Unter der Überschrift »Ein kleines bisschen Glück« bildet es in der Kölner Flora gemeinsam mit weiteren Songs aus den 30er-Jahren einem beachtenswerten Werk einen zeitlich und inhaltlich passenden Rahmen: dem Cembalokonzert der jüdischen Komponistin Maria Herz (1878–1950).
Chancenreich und schrecklich
An deren Schicksal sei abzulesen, wie chancenreich und wie schrecklich die Geschichte von Jüdinnen und Juden in Deutschland gewesen sei, unterstrich Thomas Höft, der künstlerische Leiter des Festivals, am Dienstag bei der Probe und der Pressekonferenz im »zamus«, dem »zentrum für alte musik« in Ehrenfeld. Maria Herz, jüngstes Kind der Kölner Textilhändlerfamilie Bing, stellte ihr Konzert für Orchester und Cembalo 1935 fertig. Sie befand sich damals auf einer rastlosen Flucht aus Nazideutschland. Diese Komposition war wahrscheinlich ihre letzte.
Das Notenoriginal lagert in der Zentralbibliothek Zürich. In der Schweiz ist dieses Werk 2020 bereits mit Klavier uraufgeführt worden, doch mit Cembalo wird es nun zum allerersten Mal zu hören sein. Michael Hell spielt auf einem Pleyel-Cembalo und damit auf einem jener Instrumente, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die Renaissance der Barockmusik beflügelten. Auch deshalb kommt das Ensemble sehr nah heran an die klangliche Vorstellung, die Maria Herz beim Komponieren vermutlich im Sinn hatte.
»Wir versuchen, ein Bild zu finden, ein Gefühl dafür, was im ›Film‹ dieser Musik passiert«, so Georg Kroneis, Kontrabassist und Orga-Chef von Art House 17. Es sei der Anspruch des Ensembles, dieses Gefühl, das auch eine Form von Verantwortung gegenüber der Komponistin umfasse, gemeinsam zu ergründen.
Mit einem Ausrufezeichen also startet Shalom-Musik.Koeln in die aktuelle Ausgabe. Diese sieht bis zum 25. August in Köln und im Rhein-Erft-Kreis 80 große und kleine Konzerte vor, die allesamt die Vielfalt jüdischer Musik zeigen wollen. Das Programm umfasst eine Bandbreite, die von Klezmer bis Klassik reicht, von Jazz zu Synagogalmusik, von Folk und Chanson zu Elektrosounds. Es musizieren jüdische und nichtjüdische Künstlerinnen und Künstler.
Klassik, Folk, Jazz sowie Elektro- und Synagogalmusik – für jeden ist etwas dabei.
»Together now« lautet das diesjährige Motto des Festivals, das vom »Kölner Forum für Kultur im Dialog« in Kooperation mit der Kölner Synagogen-Gemeinde ausgerichtet wird. Gerade dort, wo die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen zu Hause sei, solle und müsse jüdische Musik in der Öffentlichkeit sichtbarer werden, so die Forums-Vorsitzende Claudia Hessel.
Die Türen sind jedenfalls aufgetan – zumal am »Langen Tag mit jüdischer Musik«. Vom Mittag bis zum späten Abend finden an 15 unterschiedlichen Orten rund 40 Konzerte statt. Diese seien laut Programmleiterin Ulrike Neukamm immer gerade so kurz oder lang, dass sich ein Konzert-Hopping individuell gestalten lasse: vom Spaziergang bis zum Marathon.
Besondere Premieren
Auch hier locken besondere Premieren. So wird im Wallraf-Richartz-Museum die West Side Story erstmals in Deutschland in der von Lucian Plessner geschriebenen Fassung für Konzertgitarre und Orchester gespielt. Unter Leitung von Alexander Willens spielen die Musiker der Kölner Akademie. Solist ist der Gitarrist Wulfin Lieske. Er springt für Plessner ein.
Im Antoniussaal an der Antoniuskirche gastiert am Sonntag der israelische, in Köln lebende Komponist Tom Belkind und bringt unter anderem mit »Flexible realities, Elastic POVs« ein vom Festival in Auftrag gegebenes Stück zur Uraufführung. Zu den beteiligten Künstlern des »Langen Tags der jüdischen Musik« gehört der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung: Felix Klein (Violine) erzählt im C. Bechstein-Centrum mit dem Trio Accento von »Lebenslust und Liebesleid«.
In seinem Statement zur Veranstaltung zeigt er sich überzeugt davon, dass jüdisches Leben umso weniger Gefahr laufe, angegriffen zu werden, je selbstverständlicher es »als Teil unserer Kultur« wahrzunehmen sei. Eröffnet wird dieser Tag mit Liedern und Gebeten in der Synagoge an der Roonstraße von gleich drei jüdischen Kantoren, beschlossen wird er mit Musik von Orgel und Schofar im Kölner Dom.
Nicht allein hier entsteht eine Brücke zwischen den Kulturen. Bereits am Freitag sind ausdrücklich alle interessierten Menschen eingeladen, an einer öffentlichen Schabbatfeier teilzunehmen, unabhängig von Religion oder Weltanschauung. Einer, der dies ermöglicht, ist Jonathan Kligler, von 1988 bis 2022 Rabbiner von Woodstock.
Im Anschluss wird Sharon Brauner mit den Goy Boys in die Welt jüdischer Musik und Traditionen entführen. Sie begibt sich mit »Family Affairs« auf eine musikalisch-biografische Reise. Shalom-Musik.Koeln endet am Sonntag, 25. August, und lädt erstmals gemeinsam mit MOVIMENTO zu einer musikalischen Radtour an der Erft ein.