Kein Tag des Sieges ohne Feier: Das gilt bei der Israelitischen Gemeinde Freiburg auch in Corona-Zeiten. Doch statt wie früher mit bis zu 180 Gästen gab es in diesem Jahr eine kleinere Runde mit rund 50 Personen. Schuld daran war neben Corona auch die Tatsache, dass die Veteranen fast alle tot sind. Für die Zukunft wünscht sich die Gemeindevorsitzende Irina Katz, dass jüngere Mitglieder die Bedeutung des Kriegsendes für sich entdecken. Bisher verbinden nur die Älteren viel mit dem 8. Mai, egal ob sie den Tag feiern oder nicht.
Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, dann hätte Mikhaylo Tsodikovich sicher teilgenommen: an der Gedenkstunde mit Gebet und Musik in der Freiburger Synagoge und davor auf dem Jüdischen Friedhof. Dort wurden am Sonntagmorgen, einen Tag nach dem 8. Mai, Blumen auf die Gräber der Veteranen gelegt. Auch Mikhaylo Tsodikovich ist ein Veteran. Seine Orden und Auszeichnungen trägt er seit vielen Jahrzehnten immer bei sich in einer kleinen Schachtel, erzählt seine Schwiegertochter Irina Tsodikovich.
Berlin Sie sind auch nach wie vor bei ihm, inzwischen im Zimmer des Freiburger Pflegeheims, in dem er nun lebt. Mikhaylo Tsodikovich ist fast 97 Jahre alt, wegen seiner Demenz kann er nicht mehr selbst von seinen Erinnerungen erzählen und nicht bei der Feier der Gemeinde sein. Stattdessen besuchen ihn sein Sohn, die Schwiegertochter und andere Angehörige jedes Jahr am Tag des Sieges, der für ihn sein ganzes Leben lang ein ganz besonderer Tag war. Er habe das Kriegsende 1945 in Berlin erlebt, erzählt Irina Tsodikovich. Dort sei er als russischer Soldat nach Einsätzen in Stalingrad, Ungarn und Polen angekommen.
Nationalsozialisten hatten 1941 das Dorf von Mikhaylo Tsodikovich besetzt und seine gesamte Familie getötet.
Mikhaylo Tsodikovich war sehr jung Soldat geworden, mit 18 Jahren. Davor hatte er seine Familie verloren: Als die Nationalsozialisten 1941 sein kleines Heimatdorf Dobroje in der Ukraine besetzten, erschossen sie seine Eltern und seine Schwester. Nur Mikhaylo Tsodikovich überlebte. Durch die Evakuierung des Betriebs, in dem er arbeitete, kam er nach Russland. Nach dem Kriegsende kehrte er in die Ukraine zurück. In Odessa, wo er mit seiner Frau und seiner Familie lebte, ging er am Tag des Sieges immer zum Denkmal des unbekannten Soldaten, danach wurde gefeiert, erzählt Irina Tsodikovich. Später, nach dem Umzug nach Freiburg 1995, gingen die Feiern dann in der Israelitischen Gemeinde weiter.
Die anderen Veteranen in Freiburg sind inzwischen gestorben. Von den älteren Gemeindemitgliedern haben einige aber den Krieg noch als Kinder erlebt. Für Genya Neplokh, die 1939 geboren wurde, war die Zeit damals so schwierig, dass sie sich nicht mehr an den Mai 1945 erinnert. Das liegt natürlich auch daran, dass sie 1945 mit sechs Jahren auch noch Kind war.
Hunger Die Leningrader Blockade hat sie als Kleinkind miterlebt, hier fehlen ihre eigenen Erinnerungen so gut wie vollständig. Später erzählte ihr ihre Mutter, dass sie immer vor Hunger geschrien und um Brot gebeten habe, das es nicht gab. Ihre Großeltern und ein kleiner Bruder starben damals. Genya Neplokh wurde in einem der Lkws, die eine Fluchtroute über den zugefrorenen Lagoda-See gefunden hatten, fortgebracht.
Margarita Davidof hat nur ein Schwarz-Weiß-Bild von ihrem Vater – sie kannte ihn kaum.
Kurz nach dem Krieg starben ihre Eltern, sie blieb allein mit einem Bruder zurück. Erst später, als sie Ingenieurin war, fing Genya Neplokh an, den Tag des Sieges zusammen mit Kollegen zu feiern. 1998 kam sie nach Freiburg. Zurzeit geht es ihr gesundheitlich nicht gut, deshalb ist sie dieses Mal nicht bei der Feier in der Synagoge.
Anders als Margarita Davidof: Sie ist bei den Feiern in Freiburg immer dabei, seit sie 1994 in den Breisgau zog. Immer wieder bekommt dann auch ein kleines schwarz-weißes Foto eine besondere Bedeutung für sie: Es ist das einzige Bild, das sie von ihrem Vater hat. Darauf ist er als junger Soldat zu sehen.
Im Mai 1945 war sie sieben Jahre alt und wusste nicht, was aus ihrem Vater geworden war. Er war Soldat geworden, als sie noch zu klein war, um ihn bewusst kennenzulernen. Bewusst gesehen hat sie ihn erst ein Jahr nach dem Krieg, bei seiner Beerdigung Anfang 1946. Er hatte die Folgen des Krieges nicht überlebt. Von ihm geblieben ist ihr nur das Foto. Sie selbst hat noch vage Erinnerungen an den Mai 1945, an das Getümmel von glücklichen Menschen auf den Straßen von Leningrad.
Vitaminmangel Mit dem Krieg verbindet sie genau wie Genya Neplokh vor allem die Leningrader Blockade. Am meisten erinnert sich Margarita Davidof an die vielen Ratten überall. Sie hat diese Zeit gemeinsam mit ihrer Mutter überstanden. Sie war das einzige Kind, ihre Mutter ließ sie nie allein. Der Tod lauerte überall.
Die Mutter nahm sie mit zur Arbeit in einer Hospitalküche, gemeinsam durchlitten sie den großen Hunger, das Frieren, die Zahnfleisch-Entzündungen, Geschwüre und andere Krankheiten, die sich aus dem Vitaminmangel entwickelten und deren Folgen das Leben vieler Überlebender der Leningrader Blockade auch nach dem Krieg prägten.
Sprechen konnte sie mit ihrer Mutter über diese Zeit erst kurz vor deren Tod 2009. Bis dahin war das Thema seit dem Kriegsende immer tabu.