Problemlos öffentliche Verkehrsmittel nutzen, Veranstaltungen besuchen, bei Ämtern wichtige Dinge regeln – eben das tun, was für Menschen ohne körperliche Beeinträchtigungen ganz selbstverständlich ist. Menschen mit Behinderungen stoßen im Alltag immer noch häufig auf Einschränkungen – auch wenn es um Zugang zu jüdischen Gemeinden geht.
Der Münchnerin Paula Zimerman Targownik liegt das Thema Barrierefreiheit besonders am Herzen. Ihre Tochter Amili ist auf den Rollstuhl angewiesen. »Ich habe so oft erlebt, dass man sich vielerorts einfach nicht willkommen fühlt, wenn man behindert ist.« Die Barrierefreiheit in den Synagogen und Gemeinden sei wichtig für sie, aber nicht wegen ihrer Tochter. »Unsere Familie geht damit sehr offen um. Wir schämen uns nicht und machen alle unmöglichen Sachen möglich. Wir haben immer gegen Barrieren gekämpft, überall.« Aber es gebe andere Familien, die sich nicht trauten, etwas zu sagen, und dann lieber zu Hause blieben.
Lift »In unserer neuen Münchener Synagoge angekommen, muss ich immer den Schlüssel für den Lift suchen, die Leute fragen. Und dann bei der Garderobe bitten, eben Platz zu machen. Danach muss ich alle gehängten Jacken zur Seite schieben, damit wir in den Lift reinkommen können.« Oben sei kein Platz für Rollstühle. Trotzdem würden sie den einzig möglichen Platz – den Fluchtweg – nehmen. »Dort stören wir alle Frauen, die durch müssen. Gott sei Dank, bis jetzt ist niemand gestürzt, da wir gleich neben den Treppen sind.«
Hinzu komme, dass es keinen Fahrstuhl gibt, mit dem die Toilettenräume zu erreichen sind, was nicht nur für Rolli-Nutzer ein Problem sei: »Das muss man sich einmal vorstellen, so viele ältere Leute leiden unter Inkontinenz und sind außerdem nicht mehr so gut zu Fuß, sie können nicht einfach schnell Treppen herunterlaufen, das geht schlicht nicht.«
Paula Zimerman Targownik hofft, dass sich das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Behinderten in den jüdischen Gemeinden verändert: »Eine Gemeinde zu sein, bedeutet doch, dass wir alle zusammen diese Gemeinde sind, Alte, Junge, Gesunde, Kranke, alle«, sagt sie.
Bau Jahrelang hörte Leah Floh, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Mönchengladbach, immer nur, dass es aufgrund der baulichen Gegebenheiten völlig unmöglich sei, im Gemeindehaus einen Aufzug einzubauen. »Und nun haben wir nach dem Umbau vor einigen Jahren nicht nur behindertengerechte Toiletten, sondern auch noch zwei Aufzüge.«
Gemeinsam mit ihrem stellvertretenden Vorsitzenden Mihail Korolinskij, einem mittlerweile pensionierten Ingenieur, hatte sich Leah Floh nicht mit dem angeblich unabänderlichen begrenzten Zugang für Menschen mit körperlichen Behinderungen abfinden wollen. »Eine Baufirma fand schließlich die Lösung, nämlich Veränderungen im Treppenhaus«, berichtet sie. Nun führt ein großer Aufzug vom Parterre in den Kiddusch-Saal im Untergeschoss. Mit einem kleineren können zusätzlich unter anderem die Büro- und Unterrichtsräume in den drei oberen Geschossen erreicht werden.
»Das Bewusstsein dafür, Barrierefreiheit zu schaffen, ist in den letzten Jahren überall eindeutig gewachsen«, hat Leah Floh beobachtet. In der Mönchengladbacher Gemeinde sind die meisten Mitglieder mit körperlichen Einschränkungen schon älter, »sie sollen auch weiterhin ganz selbstverständlich am Gemeindeleben teilhaben können«, betont Leah Floh.
integrationskurse »Und nun haben wir ja zusätzlich auch noch Flüchtlinge aus der Ukraine, wie ein älteres Ehepaar, der Mann ist Holocaust-Überlebender. Freier Zugang zu den Angeboten der Gemeinde ist für sie alle natürlich sehr wichtig«, betont sie. »Die Leute müssen in die Sozialabteilung kommen können und in die Integrationskurse, die wir viermal wöchentlich abhalten.«
Ältere Menschen, deren körperliches Leistungsvermögen abnimmt, sprechen nicht gern über ihre Schwierigkeiten, weiß Leah Floh, deswegen versuche man, auch denjenigen zu helfen, die nicht mehr ganz so gut zu Fuß sind, aber die Aufzüge noch nicht so gern benutzen: »Für alle, die manchmal Pause machen wollen oder müssen, haben wir im Treppenhaus Stühle aufgestellt.«
Bei Integration und Hilfestellung für Menschen mit körperlichen Behinderungen möchte es Leah Floh aber nicht belassen: »Wir haben in der Gemeinde eine Physiotherapie-Gruppe für Leute, die an Osteoporose leiden. Und wir sind gerade dabei, Kurse für Demenzkranke zu organisieren, aktuell sind wir in Gesprächen mit den Krankenkassen und haben schon Material eingekauft.« Die Reaktionen in der Gemeinde seien sehr positiv, »wir haben schon sehr viele Anmeldungen, das ist etwas, das die Leute wirklich wollen«.
Hatikwa Spiele und Bewegung im Sitzen seien bei manifestierter Demenz wichtig, »man kann sie natürlich nicht heilen, aber der Verlauf kann verlangsamt werden«. Eine wöchentliche Demenzberatung existiert bei der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf bereits. Außerdem gibt es schon seit Jahren die Selbsthilfegruppe »Hatikwa« für Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen. »Wir sind wirklich gut aufgestellt«, sagt Zeev Reichard, Referent für Öffentlichkeitsarbeit in der Gemeinde. »Alle, auch Rollstuhlfahrer, können problemlos dorthin gelangen, wo sie hinwollen.«
Anderswo kann man von solchen optimalen Bedingungen nur träumen: In Bezug auf Barrierefreiheit sei die Situation in der Jüdischen Gemeinde Halle »nicht so einfach«, sagt der Vorsitzende Max Privorozki. Im Gemeindezentrum werde sie allerdings im nächsten Jahr besser, »wir planen den Einbau eines Fahrstuhls, sodass Rollstuhlfahrer dann zum Beispiel ungehindert in die Bibliothek gelangen können«. Dieser Fahrstuhl wird im Hof außen am Gebäude angebracht.
In der Synagoge »ist es dagegen etwas komplizierter«, bedauert Privorozki. Dort ist es aus baulichen Gründen nicht möglich, einen Fahrstuhl einzubauen, »aber wenn jemand kommt, der schwerbehindert ist, dann helfen wir eben mit zwei, drei Leuten, die dortigen Treppenstufen zu überwinden«. Schließlich solle sich niemand ausgeschlossen fühlen, »wir tun, was wir können, und wir finden immer eine Lösung, zum Beispiel auch dann, wenn jemand nicht weiß, wie er zur Gemeinde kommen kann«.
Das Thema Barrierefreiheit sei »unvermindert aktuell«, sagt Alexander Drehmann, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen. »Wir sind auf einem sehr guten Stand, zusammen mit der Aktion Mensch haben wir kleine Umbauten realisiert, dazu verfügen wir über Behinderten-Toiletten, rollstuhlgerechte Rampen, und fast jede Ecke der Duisburger Gemeinde ist mit dem Fahrstuhl zu erreichen. Wir halten die Richtlinien ein.« Dazu verweist Drehmann darauf, dass die Gemeinde auch eine altersgerechte, barrierefreie Wohnanlage errichtet hat: »In einem Haus ohne Fahrstuhl zu leben, ist für viele Senioren nicht möglich, auch daran muss gedacht werden.«
winter Zurück nach München: Viele Menschen hielten Behinderungen überdies nach wie vor für etwas, das meistens im Alter auftritt oder einem sowieso nicht passiere, sagt Paula Zimerman Targownik. »Aber niemand ist davor gefeit, plötzlich vielleicht auch im Rollstuhl zu sitzen – sei es durch Krankheit, sei es durch einen Unfall«, meint sie.
Und fügt hinzu: »Nun ist bald Winter, und die Leute fahren in Skiurlaub – und manche kommen mit gebrochenen Beinen wieder. Auch wenn man vielleicht zum Glück dann nur zwei, drei Monate auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kann es doch nicht sein, dass man womöglich gerade an den Feiertagen nicht die Synagoge besuchen kann.«
Nicht zuletzt deswegen fordert sie: »Der Zugang zu den jüdischen Gemeinden muss für alle möglich sein, es muss normal sein, dass Menschen mit Behinderungen an den Gottesdiensten und den Veranstaltungen teilnehmen können.«