Überraschungen können vielerlei Formen haben. Die, die Reinhard Schramm am vergangenen Mittwochnachmittag in den Händen hält, ist rund, aus Metall und passt in eine Handfläche. Eine silberne Büchse mit einem grasgrünen Aufkleber – Negativ-Film – auf der einen Seite und einer erhabenen Prägung – Agfa – auf der anderen Seite. Auf einem viereckigen leicht vergilbt-ockerfarbenen Aufkleber steht das, was diese Büchse so einzigartig macht: »1952, 31-08 Synagoge Erfurt Einweihung«. Es ist die einzig erhaltene Filmaufnahme des Ereignisses, das in der thüringischen Landeshauptstadt in der vergangenen Woche gefeiert wurde: das 70-jährige Jubiläum der Synagogeneinweihung.
ENGAGEMENT Und diesen Film hält der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen nun in den Händen. Fest umgreift er die Büchse, schaut sie immer wieder an, als wolle er sich versichern, dass sie noch da ist. Auch längst noch, nachdem Caroline Fischer, die Verwaltende Direktorin des Europäischen Kultur- und Informationszentrums, sie dem Gemeindevorsitzenden überreicht und erklärt hat, warum der Film so lange nicht zu finden war. »Solche schönen Überraschungen gibt es nicht immer«, sagt Reinhard Schramm. »Es ist mir sehr nahegegangen«, betont er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Zum einen, weil dieses »Stück Geschichte, was ich in der Hand hielt«, eine Aufforderung sein soll, auch die Nachkriegsgeschichte wissenschaftlich aufzuarbeiten. Zum anderen sei er einfach nur dankbar, wenn sich auch Nichtjuden für jüdisches Leben einsetzten – wie Fischer und ihre Kollegin Franziska Bracharz, die viele Jahre in der Kinderarbeit tätig war.
»Eine Synagoge sollte immer
Rabbiner Alexander Nachama
Mittelpunkt einer jüdischen
Gemeinde sein.«
Reinhard Schramm ist »sehr froh, dass es diese Synagoge gibt, und ich bin sehr stolz, dass es Juden waren, die das KZ überlebt und nicht resigniert haben, sondern dass sie mit aller Kraft versucht haben, die Synagoge aufzubauen.« Dass dies zu DDR-Zeiten alles andere als einfach war, das führt Schramm in seiner Festrede aus. Wie der erste Bauantrag des Architekten Willy Nöckel 1948 mit der Begründung »zu groß, zu sakral und nicht in die städtebaulichen Verhältnisse eingefügt« abgelehnt wurde und wie noch zwei Überarbeitungen folgen mussten, ehe die Stadt 1951 den Neubau genehmigen sollte. Die Synagoge »war sehr schlicht, nur an Details als Synagoge erkennbar«.
Diese Worte Schramms beschreiben das kleine Gebäude mit cremefarbenem Putz, drei schlanken Fenstern an der Seite, einem runden Fenster mit Davidstern darüber. Es ruht neben den Zehnstöckern des Juri-Gagarin-Rings, die sich dort in Waschbetongrau und -rot seit den 1960er-Jahren großmachen. Es ist eine Nachbarschaft, die eigentlich nur eine Straße voneinander trennt. Wenn die Fenster der Hochhäuser nicht geschlossen wären, könnten die Klezmerlieder später beim Fest von den Nachbarn im Gagarin-Ring sogar gehört werden.
TORAROLLE Dass diese Synagoge existiert, ist unter anderem Max Cars, dem ersten Vorsitzenden der Nachkriegsgemeinde zu verdanken. Er »sah in der Torarolle die Hoffnung auf Wiederaufbau von Gemeinde und Synagoge«, sagt Reinhard Schramm während der Feierstunde, und viele geladene Gäste – der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, die Landtagspräsidentin Birgit Pommer, Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein – hören ihm zu. Auch Alexander Nachama, der seit 2018 Landesrabbiner von Thüringen ist. Er steht während Schramms Festrede an der linken Seite, lehnt leicht an der Wand. Dass die Synagoge an diesem 31. August so voll ist, freut den jungen Rabbiner. »Es ist unser Fest, liebe Gemeindemitglieder«, begrüßte er zuvor die Gäste. Heute ist die Synagoge voll, zum Schabbat, so die Hoffnung des Landesrabbiners, wären ebenso viele Menschen auch gern gesehen.
Nachama betont: »Eine Synagoge sollte immer Mittelpunkt einer jüdischen Gemeinde sein.« Es sollte ein Ort sein, den man so selbstverständlich wie sein Wohnzimmer betritt, als Teil des Alltags. Ein Ort, an dem man sich so wohl wie zu Hause fühlt.«
»Solche schönen Überraschungen
Reinhard Schramm
gibt es nicht immer«
Und das tun über 600 Mitglieder. Nach der Wende war die Mitgliederzahl auf weniger als 30 gesunken, durch den Zuzug der »Kontingentflüchtlinge« aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs die Gemeinde auf 800 Mitglieder an. Dass auch junge Gemeindemitglieder in die Synagoge kommen, ist ein wichtiger Aspekt von Nachamas Arbeit, der ihm sehr am Herzen liegt. In der Pandemie junge Menschen zu erreichen, war nicht einfach, aber nun soll es wieder konkretere Pläne geben.
OPTIMISMUS »Wenn die Mauern dieser Synagoge sprechen könnten: Was hätten sie nach diesen 70 Jahren zu erzählen!«, sagt Charlotte Knobloch, IKG-Präsidentin, in ihrer Rede. »Sie haben Wiederaufbau und Stagnation erlebt, Niedergang und Neu-Aufstieg, danach eine Konsolidierung – und zuletzt wieder ein Nebeneinander von Optimismus und neuen Sorgen.«
Der Bau selbst und die Feier seien daher »Ausweis der völlig veränderten Umstände gegenüber der Zeit seiner Einweihung vor genau 70 Jahren«, betont Knobloch. Die Neue Synagoge Erfurt sei immer Symbol der Hoffnung für das jüdische Leben geblieben. »Was für die Älteren noch eigenes Erleben war, ist für die kommende jüdische Generation bereits Zeitgeschichte. Die jungen jüdischen Menschen sind aufgewachsen mit Synagogen in deutschen Städten. Sie kennen nur Freiheit und Demokratie. Eine jüdische Gemeinschaft, die den sprichwörtlichen Hinterhof verlassen hat, ist für sie normal.« Wenn diese nächste Generation sich engagiere, so die Hoffnung Knoblochs, dann könne sie den Boden bereiten, »auf dem mit der Zeit eine neue jüdisch-deutsche Kultur heranwächst«.
Thüringen engagiert sich für die Vermittlung jüdischer Kultur und ist aktiv im Dialog und Miteinander. Der Yiddish Summer Weimar und die Achava-Festspiele sind nur zwei feste Größen; die Jüdisch-Israelischen Kulturtage in Thüringen haben im Frühjahr des Jahres 30-jähriges Jubiläum gefeiert. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) unterstrich in seiner Rede: »Vieles hat das Zusammenleben zwischen der Jüdischen Landesgemeinde in Thüringen und vielen Thüringer Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den vergangenen Jahren bestimmt und uns miteinander verbunden. Erst im vergangenen Jahr haben wir mit dem Themenjahr ›Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen‹ diese Verbindung gefeiert.« In schweren Zeiten, wie nach dem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge im Jahr 2000, habe man Seite an Seite gestanden, sagte der Politiker, der betonte, dass jüdisches Leben auch immer wieder der Schutzlosigkeit ausgeliefert sei. Er sieht es als feste Verantwortung, sich für diesen Schutz einzusetzen.
»Es ist nicht nur eine Feier für das Gebäude, es ist ein Zeichen für jüdisches Leben«, sagt Bodo Ramelow in der Synagoge und später draußen beim Fest. Musik spielt, ein Buch für gute Wünsche liegt aus, Gemeindemitglieder und Gäste kommen ins Gespräch. Wie wohl die Feier bei der Einweihung 1952 war? Das Geheimnis liegt in einer kleinen Dose aus Metall.
Weitere Informationen: www.jlgt.org