Was wohl drin sein mag? Das Probeschütteln klingt verheißungsvoll, das klappernde Geräusch könnte von einem Spielzeug stammen, das Rascheln von den Lieblingssüßigkeiten, und außerdem sind doch bestimmt auch neue Malstifte drin. Viele jüdische und nichtjüdische Kinder, die in diesem Jahr eingeschult werden, ahnen vermutlich nicht, dass am ersten Schultag schon für ihre Urgroßeltern die große Frage nach dem Inhalt ihrer Schultüte ganz wichtig war – sofern diese in Deutschland aufwuchsen, denn bereits in den Nachbarländern ist der Brauch gänzlich unbekannt.
Im Jenaer Stadtmuseum beschäftigt sich die Ausstellung »Schulanfang und Zuckertüte« gerade mit dem Thema Schultüte. Erstmals schriftlich erwähnt wurde die Schultüte, als der Jenaer Heinrich Eisenschmidt beschrieb, wie er 1917 »vom Kantor eine mächtige Tüte mit Konfekt, wahrscheinlich als ein symbolisches Zeichen der vom Fleiße zu erwartenden Vorteile« überreicht bekam.
Drei Generationen Die Schultüte setzte sich durch, und so hielten bei ihrer Einschulung auch Sohn, Vater und Großvater Neumann Schultüten in den Händen. Daniel Neumann kann sich allerdings nicht mehr an seinen ersten Schultag und damit »auch nicht an seine Schultüte« erinnern. Erinnerungen seien trügerisch, betont der Jurist, »das kennt man von Zeugenaussagen – und ich meine mich zwar zu erinnern, was ich am großen Tag anhatte, aber das vielleicht auch nur, weil ich ja das Einschulungsfoto kenne.«
Als sein Sohn nun in die Schule kam, stand allerdings rasch fest, dass eine gekaufte Tüte nicht in Frage käme: »Meine Frau hat selbst eine gebastelt, weil wir uns diesem Konsumdiktat entziehen wollten, diesem Drang, immer das Beste und Teuerste zu präsentieren.« Gefüllt wurde die Tüte mit Obst, Süßigkeiten, kleinen Spielsachen. Wie die Schultüte aussehen würde, wusste der Kleine vorher nicht, »es sollte ja eine Überraschung sein«. Und natürlich war die kleine Schwester schon ein bisschen neidisch darauf, dass ihr großer Bruder nun ein Schulkind ist. Zum Ausgleich bekam auch sie »eine Mini-Tüte«. Mit dem vermutlich schon seit Generationen immergleichen Effekt: »Bevor man beim Mittagessen sitzt, ist die halbe Tüte leergegessen.«
Einfach Als Daniels Vater Moritz Neumann 1954 eingeschult wurde, bekam er natürlich auch eine Schultüte. »Wenn ich gewusst hätte, dass sie 56 Jahre später ein Thema wird, hätte ich mir natürlich viel mehr Einzelheiten gemerkt«, erzählt er lachend. »Stinknormal« sei sie wohl gewesen, »mit Mäppchen, Buntstiften und wahrscheinlich auch koscheren Bonbons drin«.
Dass Darina Pogil, die Verwaltungseiterin der jüdischen Grund- und Religionsschule Stuttgart, an ihrem ersten Schultag keine Zuckertüte im Arm hielt, hat einen einfachen Grund: »In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion kennt man diesen Brauch nicht, dort ist es eher üblich, dass die Kinder ihren Lehrern Blumen schenken.«
Praktisch Als ihr eigener Sohn eingeschult wurde, war die Tüte dann aber ganz selbstverständlich dabei, gefüllt mit »Praktischem, eben allem, was ein Schulkind braucht«. Und natürlich Süßigkeiten. »Ich hatte vorher nachgefragt, was man den Kindern mitgeben sollte.« In der seit drei Jahren bestehenden jüdischen Grundschule gehört der Hinweis auf die Schultüte ganz selbstverständlich zu den Vorbereitungsgesprächen dazu, »denn es wäre ja schade, wenn ein Kind keine bekommt, weil die Eltern den Brauch nicht kennen.« Manche machen es sich dann »einfach und kaufen eines der vielen Modelle, die vor dem Schulstart selbst schon im Internet angeboten werden.«
In seinem Buch Mein Weg als deutscher Jude erwähnt Julius Schoeps, dass er bei seiner Einschulung die »obligatorische Schultüte« dabei hatte. »Die Erinnerungen an den Tag sind schwach.« Natürlich sei er aufgeregt gewesen, denn gerade aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt, habe er noch kaum Deutsch gesprochen. In Schweden seien Schultüten ebenfalls unbekannt, erinnert sich Schoeps. Es sei wohl vor allem eine deutsche Tradition. Allerdings eine mit möglicherweise jüdischen Wurzeln. Bei Wikipedia heißt es dazu: »Grundlage war der Brauch der jüdischen Gemeinden, Kindern zu Beginn ihres an der Tora ausgerichteten Schullebens süßes Buchstabengebäck zu schenken als Erinnerung an das Psalmwort »Dein Wort ist in meinem Munde süßer als Honig.«
Brauch Dass die Erfindung der Schultüte auf einen jüdischen Brauch zurückgeht, hält Rabbiner Netanel Wurmser für eine »etwas gewagte Hypothese.« Denn einerseits sei der Vergleich nicht so ganz falsch, »die Kinder bekamen, wenn sie zum ersten Mal, in den Tallit eingewickelt, in den Cheder, die jüdische Elementarschule gebracht wurden, süße Sachen von ihrem Lehrer.« Dass aber Nichtjuden diesen Brauch übernommen hätten, glaube er nicht. »Vielleicht hat man vor 200 Jahren in ländlichen Gebieten Buchstaben gebacken, als örtliches Brauchtum.« Aus rabbinischer Sicht sei gegen Schultüten nichts einzuwenden, »das ist doch eine sehr schöne Geste, um den neuen Lebensabschnitt zu markieren – solange es nicht übertrieben wird und zum Schulanfang ein roter Teppich ausgerollt wird.«