Wenn Elisa Klapheck beschreibt, wie sie ihre wahre Berufung fand, so hat dies zunächst eher mit der hebräischen Sprache und einer fast exegetischen Literaturkunde und hermeneutischen Untersuchung zu tun. Wort für Wort, Satz für Satz erobert sich Klapheck gemeinsam mit Freundinnen den Text der Bibel. Es ist ein Tüfteln und Suchen nach Bedeutungen und Interpretationen, nach dem Sinn. Eine puzzleähnliche Arbeit, Studieren und Finden nicht nur von Wortbedeutungen und Aussagen der Bibel, sondern auch ihrer selbst.
Ein Finden, das über den Weg des Zweifels führt. Mit 13, gesteht Klapheck, habe sie den Religionsunterricht abgewählt. Und auch als sie zusammen mit Freundinnen begann, die Bibel auf Hebräisch zu lesen, sei sie nicht religiös gewesen. Es ist dieses Gefühl des Andersseins, das sie mit der Zeit immer mehr zu der intellektuellen Beschäftigung mit der Religion führt. Im Beruf, unter Freunden und Bekannten merkt Klapheck mit den Jahren, dass sie nicht zur Mehrheitsgesellschaft in Deutschland gehört, dass sie andere Antworten auf die drängenden Fragen der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sucht und für sich findet.
Familiengeschichte Fast scheint es, als ob die Autorin durch das Studium erst einmal zu sich, zu ihrer eigenen Familiengeschichte findet, das Schicksal dieser Familie zu entdecken beginnt und Stück für Stück als wesentliche Basis ihres eigenen Denkens, Handelns und Fühlens annimmt. Sie macht sich schließlich als Frau der zweiten Generation dingfest, belastet mit dem Zuviel oder Zuwenig an Holocaust-Erinnerungen der Eltern. Gerade die im Buch spürbar werdende reibungsvolle Auseinandersetzung mit der Mutter führen Klapheck als Persönlichkeit und religiös Suchende zu sich selbst.
Eines Tages schenkt Mutter Lilo ihrer Tochter Elisa das Buch von Helen Ebstein: Children of the Holocaust. Conversations with Sons and Daughters of Survivors. »Es beschreibt, wie die Eltern das in der Schoa erlittene Trauma unbewusst an ihre Kinder weitergeben. Es beschreibt auch, wie die Kinder versuchen, sich dessen zu erwehren, dabei jedoch Gefühle von Schuld und Verrat gegenüber den überlebenden Eltern entwickeln«, erklärt Klapheck. Und sie erkennt, dass ihre Mutter längst verstanden hat, »was zwischen ihr und mir vorgeht. Ich will nicht annehmen, was sie mir aufzwingen will – wenn sie nachts in mein Zimmer kommt und mich weckt, um mir unvermittelt zu beschreiben, wie die Nazis ihre Großeltern, Issak und Charlotte, abholen und das alte Paar die Treppe hinunterprügeln« und ihren Hund Schuschu vor ihren Augen erschießen.
Gemeinsames Erarbeiten Das Rabbineramt ist für Elisa Klapheck Endpunkt einer selbst gewählten und selbst gestalteten Aus- und Weiterbildung im besten jüdischen Sinne des lebenslangen Lernens. Und wenn man die Rabbinerin heute bei Schiurim oder Workshops erlebt, so sind diese stets vom gemeinsamen Erarbeiten des mannigfachen Sinnes einer Textstelle geprägt. Dieses Erobern von Bedeutungen, das argumentative Abwägen von Sinnhaftigkeit und Beziehung bestimmt das Buch wie die Arbeit Klaphecks als Rabbinerin und beschreibt den Weg zu ihrem heutigen Amt.
Es zeigt auch, dass die Rabbinerin nicht etwas Abgehobenes und Vollendetes, Wissendes ist, sondern eine immer weiter Sinnspürende, die die Mechanismen der Wahrheitsfindung nur verfeinert hat. Klapheck bietet weder mit ihrem Buch noch in ihrem beruflichen Werdegang etwas Prototypisches an. Es ist ihr individueller Weg zu einem Ausbildungsabschluss, der keine Vollendung darstellen und beschreiben soll.
Religion muss man sich erarbeiten, scheint die Quintessenz aus diesem Buch, und für die Angehörigen der zweiten Generation ist dies offenbar besonders schwierig. Diese Entwicklung nachvollziehen zu können, macht das Werk interessant, deswegen darf man es nicht vom Ergebnis her lesen. Der Weg ist das Ziel.
Elisa Klapheck: »Wie ich Rabbinerin wurde«. Herder, Freiburg im Breisgau 2012, 216 S., 16,99 €