Als in der Nacht Sirenen heulen, springen die deutschen Gäste im israelischen Jugenddorf Hodayot erschrocken aus den Betten und laufen nach draußen. Aber dort bleibt alles ruhig. Am nächsten Morgen erfahren sie, dass in einem Ort in der Nähe geschossen wurden. Alltag in der Region unweit der Hisbollah-Stellungen im Südlibanon, aber eine neue Erfahrung für die Delegation angehender Polizisten aus Hessen. Sie verbringen im Rahmen des deutsch-israelischen Polizeischüleraustauschs eine Woche bei ihren Partnern in Hodayot, etwa 20 Kilometer westlich von Tiberias.
Seit sechs Jahren besteht der Austausch zwischen Polizeiauszubildenden aus drei deutschen Bundesländern und den israelischen Jugenddörfern Hodayot, Kannot und Nir Ha’emek. Hessen und Sachsen sind von Anfang an dabei, seit dem vergangenen Sommer beteiligt sich auch Rheinland-Pfalz an der Initiative. Die Polizeipräsidenten und Regierungen der beteiligten Bundesländer unterstützen das Projekt.
Jugend-Aliyah Den Anstoß zu den gegenseitigen Besuchen gab Pava Raibstein, Geschäftsführerin des deutschen Komitees der Kinder- und Jugend-Aliyah. Das Hilfswerk wurde 1933 in Berlin gegründet, um jüdische Kinder vor den Nationalsozialisten zu retten. Heute ist es das größte jüdische Kinderhilfswerk und die zentrale Organisation für Heimerziehung in Israel.
Das deutsche Komitee mit Sitz in Frankfurt am Main veranstaltet Austauschprogramme für Auszubildende zwischen Israel und Deutschland. Partner auf israelischer Seite sind Jugenddörfer, in denen Waisen oder Heranwachsende aus schwierigen Verhältnissen leben, zur Schule gehen und eine Berufsausbildung erhalten. Die Bewohner der Jugenddörfer sind ein lebendiger Querschnitt der multikulturellen israelischen Einwanderergesellschaft: Äthiopier, Drusen, Araber und Osteuropäer.
Polizei-Paten Als Pava Raibstein erfuhr, dass drei der insgesamt 125 Jugenddörfer eine Polizeiausbildung anbieten, war sie sofort begeistert: »Deutsche Polizisten als Paten für junge Israelis – das wäre doch ein eindrucksvolles Zeichen der Verständigung!« Diese baut auf der Erkenntnis auf, dass im Alltag der anderen manches anders abläuft. So wunderten sich die jungen Polizisten von der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung nicht nur über nächtliches Sirenengeheul, sondern vor allem über den ständigen Spagat zwischen Bedrohung und Lebensfreude, mit dem die Menschen in Israel zu leben gelernt haben.
»Die Fahrt bis in den Norden der von Israel kontrollierten Golanhöhen war lohnend, aber auch bedrückend«, erinnern sich die Polizeistudenten Daniel Kepsne und Jannik Steiner. »Nur 60 Kilometer von Damaskus entfernt hallte uns Gewehrfeuer entgegen. Keiner der israelischen Begleiter zeigte sich allerdings sonderlich beunruhigt!« Das Fazit der jungen Polizisten: »Israel ist nah und doch eine so ferne Welt.« Besonders irritierte die hessischen Polizeistudenten, dass sogar während fröhlicher Purimfeiern in einiger Entfernung Schüsse zu hören waren.
Nur wenige Tage nach dem Israelbesuch der Hessen im vergangenen Frühjahr begann der Gazakonflikt. Wo die angehenden deutschen Kommissare kurze Zeit vorher noch auf Besichtigungstour waren, detonierte eine Autobombe. Besorgt verfolgten sie die Nachrichten aus Israel und posteten laufend Updates der Lage an Freunde und Kollegen. »Das hat uns total berührt. Wir waren ja an diesen Orten, haben das alles kennengelernt. Dann sieht man die Berichte aus Israel ganz anders«, bekundet Polizeihauptkommissarin Daniela Wotschke. Die Reise nach Israel habe den Horizont der jungen Polizisten erweitert und ihre Sicht auf Israel verändert.
REspekt Das gilt auch für die Austauschpartner aus Sachsen. »Das Leben in einer Konfliktregion ist kein Witz. Dagegen leben wir hier im tiefsten Frieden«, unterstreicht Polizeidirektor Uwe Kilz, der die Partnerschaft zwischen Polizeiauszubildenden in Sachsen und im Jugenddorf Kannot bei Tel Aviv mit begründet hat. Aus diesem Grund seien die Einstellungen zu Polizei, Militär und Sicherheitstechnik in Deutschland und Israel so verschieden, meint Kilz: »In Israel werden Polizisten mit Respekt, Achtung und Liebe behandelt.«
Auch beim Polizeischüleraustausch sind Gefühle im Spiel. »Das Besondere sind die zwischenmenschlichen Kontakte. Für mich persönlich ist der Zugang zum jüdischen Leben eine emotionale Bereicherung«, sagt Kilz. Durch den Austausch sind Freundschaften entstanden. Einige Polizisten fahren auch privat nach Israel, um die Jugenddörfer zu besuchen und Land und Leute besser kennenzulernen. Aber der Austausch bringt nicht nur Deutsche und Israelis einander näher, sondern verbessert auch die Kontakte zwischen den jüdischen Gemeinden und der Polizei vor Ort.
So gehört zum Programm der israelischen Polizeischüler in Sachsen immer der Besuch bei den jüdischen Gemeinden in Dresden, Leipzig oder in Chemnitz. Die Jugendlichen sollen erfahren, dass es auch in Deutschland jüdisches Leben gibt. Es nutzt aber auch den deutschen Polizisten und Polizeischülern, wenn sie jüdische Gemeinden von innen kennenlernen und nicht nur von außen, indem sie Wache vor der Synagoge schieben. »Es ist einfach ein ganz anderes Gefühl, wenn man weiß, wen man schützt und warum«, meint Uwe Kilz.
Multikulturell In diesem Sommer kommt bereits zum sechsten Mal eine etwa 15 Mann starke Gruppe aus Kannot nach Dresden. Am Anfang sei es doch überraschend gewesen, auf ein derart multikulturelles Grüppchen zu treffen, räumt Kilz ein. »Aber die Welt wächst zusammen. Wie man mit dem vermeintlich Fremden umgeht, ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.«
Eine Herausforderung, die die Polizisten mit Engagement angehen. »Die israelischen Schüler werden mit offenen Armen aufgenommen. Diese Wertschätzung bedeutet den jungen Leuten viel«, weiß Pava Raibstein. Den deutschen Beamten sei keine Mühe zu groß, sagt die Organisatorin anerkennend: Die Küche wird auf koscher umgestellt, Wasserschutzpolizei und Hundestaffel demonstrieren ihr Können, Wasserwerfer und Fahrzeuge werden in Aktion gezeigt, Richter erklären die deutsche Justiz, in gemischten Teams üben deutsche und israelische Polizeischüler, wie man einen Verkehrsunfall aufnimmt. Ebenso wichtig ist jedoch die gemeinsame Freizeit mit Kanutour, Schlittschuhlaufen, Grillfest und Livemusik.
Programm Eine Besichtigung der Gedenkstätte Buchenwald gehört immer zum Programm der Sachsen. Dieser Termin ist für Israelis und Deutsche bedrückend. Polizeidirektor Kilz weiß: »Das Letzte, was die Juden vor dem Transport in die Lager sahen, waren deutsche Polizisten.« Daraus rührt für ihn heute die Verpflichtung, als Deutscher in Uniform weltoffen und aufgeschlossen zu sein. Wenn die Jungen und Mädchen aus Israel in Ausgehuniform im ehemaligen Konzentrationslager stehen und die israelische Fahne im Wind flattern lassen, ist das für alle ein besonderer Moment. »Die Enkelkinder von Verfolgten und Tätern werden zu Freunden«, sagt Pava Raibstein.
Aber nicht nur aus historischer Verantwortung stehen die Polizisten hinter dem Austausch. Auch der Berufsstolz spielt eine Rolle – gern zeigt man den Gästen, wie die Polizei in Deutschland aufgestellt ist und wie das Ausbildungssystem hierzulande funktioniert. Natürlich spielt auch die pure Neugier aufeinander und auf das fremde Gastland eine Rolle, gerade bei den 17, 18 Jahre alten Jugendlichen. »So weit sind die Interessen der jungen Polizisten aus Deutschland und Israel gar nicht auseinander«, sagt Sven Fischer, der die israelischen Gruppen in Sachsen betreut und in diesem Sommer erstmals deutsche Polizeistudenten nach Kannot begleitet. Internet, Musik, Sport, Ausgehen – über diese Themen finden die jungen Leute schnell zueinander. Gleichzeitig kommt endlich mal das Schulenglisch als Sprachbrücke zum Einsatz.
Politik Aktuelle politische Themen stehen bei den Besuchen nicht auf der Agenda. Aber man gehe ihnen auch nicht aus dem Weg, versichern die Organisatoren. Das ist auch nicht immer möglich: Als die Jugendlichen aus Kannot im vergangenen Sommer Dresden besuchten, beherrschte der Gazakonflikt die Nachrichten. Die Gäste sorgten sich um ihre Freunde zu Hause. Aufgrund der antiisraelischen Stimmung in Deutschland wurde das Abschlussprogramm der israelischen Gruppe in Berlin eingeschränkt. Die Organisatoren wollten es lieber nicht riskieren, die Hebräisch sprechenden Jugendlichen allein durch die Bundeshauptstadt laufen zu lassen. Statt individueller Shoppingtouren gab es deshalb Gruppenausflüge.
Pava Raibstein bezweifelt nicht, dass es auch innerhalb der Polizei Gegner des Austauschs mit Israel gibt. »Aber denen begegnen wir nicht. Die drücken sich vor dem Projekt.« Es sei gerade das Gute an dem Programm, dass es so unpolitisch sei. Man setzt drauf, dass die jungen Leute über Job und Freizeit schnell die gleiche Wellenlänge finden.
Die Hoffnung ist, dass alte Vorbehalte bei der Jugend bald kein Thema mehr sind. Vielleicht ist man ja schon auf dem Weg dorthin: Immerhin bewerben sich auf beiden Seiten wesentlich mehr Schüler um den Austausch, als Plätze zur Verfügung stehen. Und auch, wenn die Reise nach Deutschland für manchen Israeli eine Hürde darstellt, hat noch keiner aus Furcht abgesagt. »Also, wenn man sich bei der Polizei nicht sicher fühlt, wo dann?«, fragt Pava Raibstein und lacht.