In diesem Artikel werden einige Namen fehlen, Bilder von Personen nicht gezeigt und nur Bruchstücke von Schicksalen zur Sprache kommen. Denn die Menschen, die von Sonntag bis Mittwoch in das jüdische Gemeindezentrum Frankfurt zur Tagung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWSt) »Nach dem Überleben. Psychosoziale und medizinische Auswirkungen der Schoa auf die Generation der Child Survivors« kamen, benötigen einen besonderen Schutz. Sie haben während der Schoa Verfolgung, Demütigungen und Verwundungen als Kinder erlebt. Die anderen im Saal sind Therapeuten, Sozialpädagogen.
Ausbruch Fast zwei Tage sind vergangen, der amerikanische Psychotherapeut David Pelcovitz hat seinen Vortrag zu talmudischen Stellen, die traumaähnliche Zustände und Hilfsmöglichkeiten ansprechen, beendet und beantwortet Fragen. Als Letzte meldet sich eine kleine Frau mit weißen, kurzen gelockten Haaren. Sie ist mit ihrer Schwester gekommen. Diese sitzt im Rollstuhl und während ihre Schwester ohne Atempause erzählt, weint sie.
Wie ein Sturm bricht es aus der Erzählerin heraus: »Wir sind in Rumänien aufgewachsen und heute 82 Jahre alt.« Sie kamen nach Auschwitz, bei der Selektion haben sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen. Ihre Sätze auf Jiddisch sind kurz. Mit dem Mikrofon weist sie einmal nach rechts, einmal nach links. In die Richtung, wo sich Frauen und Kinder oder die Arbeitsfähigen aufreihen sollten. Die Schwestern sollten überleben, um zu arbeiten. Dann wählte sie Josef Mengele für seine Zwillingsforschung aus. Sie schlafe kaum, nachts stehe sie im Traum wieder an der Rampe und sähe ihre Familienmitglieder. Erschöpft endet sie nach zehn Minuten: »So, das ist mein Leben«, wirft sie den Zuhörern hin.
Die Menschen im Saal kennen viele Geschichten, die eigene oder die, die ihre Patienten erlebten. Sie wissen kaum, wie sie dieser Wucht der Worte begegnen sollen. Noemi Staszewski vom Treffpunkt für Überlebende der Schoa und ihre Familien hat der Frau den Arm um die Schulter gelegt, bittet sie, sich hinzusetzen, zur Ruhe zu kommen. David Pelcovitz dankt ihr, doch er antwortet auf Englisch. Das möchte sie nicht hören. Martin Auerbach springt ein und übersetzt ins Jiddische. Das findet sie gut. Freuen kann sie sich nicht.
Gefahr Als Dreijährige in einem Korb von schmutziger Wäsche
versteckt, immer mit der Angst, keinen Laut von sich geben zu dürfen, um nicht entdeckt zu werden. Verstecke hinter einem Kleiderschrank, ein ständiges Umherziehen, Überleben in selbst gebauten Bunkern im Wald, die Erinnerungen der Kinder, die überlebt haben, und heute 70 oder 80 Jahre alt sind, haben ihr Leben geprägt.
Ein Phänomen, das beantwortet, warum man sich auch von klinischer Seite her erst so spät um Kinder als Überlebende gekümmert hat. Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, mit dem Weichen der Alltagsbewältigung, verstärken sich die Lebenserinnerungen und drängen sich den Überlebenden auf, erklärt Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie an der Uni Heidelberg.
Mit ihren Tramata gehen die Menschen unterschiedlich um. In der Altersforschung hat sich Kruse mit den Merkmalen von Identität beschäftigt und dabei festgestellt, dass Menschen, die sich über ein mitverantwortliches Leben definieren, ihre Erlebnisse in positive Energie umwandeln können. Es motiviert
sie, wenn sie ihre Erfahrungen als Zeitzeugen weitergeben, wenn Jüngere ihre Geschichte hören möchten.
Zusammenarbeit Selbst für das Fachpublikum ist diese These neu und ein interessanter Ansatzpunkt. Martin Auerbach, Klinischer Direktor von Amcha Jerusalem, stellt eine Ähnlichkeit zwischen Kruses Ergebnis mit seiner eigenen These von der posttraumatischen Reifung fest. Ergebnis der Tagung, beide wollen sich über diesen Ansatz beraten.
Wie überhaupt diese Tage dazu dienten, von und miteinander zu lernen, auch über das spezielle Thema der Kinderüberlebenden hinaus. So war unter anderen auch Jean de Dieu Mucyo aus Ruanda gekommen, der Vertreter des dortigen nationalen Komitees für den Kampf gegen den Genozid. Auch sein Wissensgebiet sind traumatische Erfahrungen.
Wie Traumata entstehen, welche politischen Hintergründe die Verfolgung der Juden vor allem in den osteuropäischen Ländern zuließen, welche Hilfskonzepte es gibt, dazu versuchte die Tagung Antworten zu geben. »Der Bedarf ist groß«, hatte Benjamin Bloch, Direktor der ZWSt zu Beginn festgestellt. 119 Fachleute, Betroffene und Familienangehörige nahmen teil. Und die Schmerzen der Holocaustüberlebenden werden sich bei ihren Kindern fortsetzen. Bloch illustriert dies mit der Geschichte eines Mädchens, das sich mit Filzstift eine Nummer auf den Arm schreibt, weil es wie seine Eltern auch eine haben wollte.
Solche Tagungen sind wichtig, denn sie können den Betroffenen Hilfestellungen anbieten. »Wir dürfen uns aber nicht einbilden, dass wir wirklich etwas verändern können«, sagt eine Sozialpädagogin. Nein verändern oder gar heilen nicht, dafür sind die Schicksale zu verschieden. Feste Therapien und Strategien lassen sich hierbei nicht entwickeln, dessen sind sich die Fachleute einig, doch wie dringend diese Treffen, das Vernetzen ihres Wissens sind, zeigen schon die Fragen, deren Antworten auf ein anderes Mal verschoben werden müssen. Auf eine weitere Tagung, von der die ZWSt hofft, dass sie wiederum finanziell von der Aktion Mensch, der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft unterstützt und von der FH Erfurt und dem Sozialwissenschaftler Doron Kiesel moderiert wird, wie bei diesem Mal.