Attacken auf Synagogen, antisemitische Sprechchöre bei Demonstrationen, Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken: Der Antisemitismus ist vor dem Hintergrund der militärischen Auseinandersetzung im Nahen Osten in diesen Tagen auch hierzulande omnipräsent. Der 3. Ökumenische Kirchentag, der auch in diesem Jahr hauptsächlich digital stattfand, widmete sich am vergangenen Freitag dem brandaktuellen Thema mit einer Podiumsdiskussion.
Unter der Fragestellung »Was tun wir gegen Antisemitismus?« standen neben den unterschiedlichen Ausdrucksformen, die der Antisemitismus annehmen kann, die verschiedenen Gegenstrategien im Fokus. Zu der Gesprächsrunde in Frankfurt am Main waren Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sowie Benjamin Fischer, Programmmanager der Berliner Alfred Landecker Foundation, geladen.
Der sogenannte moderne Antisemitismus hat sich rund um Verschwörungsmythen zur Corona-Pandemie gebildet.
Aus Brüssel beziehungsweise Berlin waren Katharina von Schnurbein, seit 2015 Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission, und Marina Chernivsky, Geschäftsführerin des ZWST-Kompetenzzentrums Prävention und Empowerment in Berlin, zugeschaltet. Moderiert wurde die Veranstaltung von dem Chefkorrespondenten der DuMont-Mediengruppe in Köln, Joachim Frank.
Verschwörungsmythen »In dem Jahr, in dem wir bundesweit 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern, stellen wir fest, dass der Antisemitismus auf dem Vormarsch ist«, sagte Moderator Frank zum Einstieg in die Diskussion. Aktuelle Zahlen belegten die Zunahme insbesondere des sogenannten modernen Antisemitismus, der sich rund um Verschwörungsmythen zur Corona-Pandemie gebildet hat.
»Projekte wie ›Meet a Jew‹ sind ein gutes Mittel gegen Vorurteile.«
Josef Schuster
Peter Feldmann, SPD-Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, sieht diese Entwicklungen mit großer Sorge. »Rechtsradikalismus und Antisemitismus sind die größte politische Bedrohung unserer Zeit«, sagte Feldmann in einem virtuellen Grußwort an die Zuschauer, die die Veranstaltung im Livestream verfolgen konnten. »Die wichtigste Waffe gegen die menschenfeindliche Ideologie sind politische Bildung und die Demokratisierung von Staat und Wirtschaft«, sagte Feldmann.
Dass Bildungsarbeit nach wie vor eines der wichtigsten Gegenmittel gegen antisemitische Stereotype ist, betonte auch der Zentralratspräsident. Neben dem Geschichtsunterricht hält Schuster insbesondere Projekte wie »Meet a Jew«, bei dem sich Jugendliche mit jüdischen Altersgenossen treffen und austauschen, für ein gutes Mittel gegen Vorurteile. »Sie sehen einen Juden, können mit ihm reden, und meistens stellt man fest: Der ist nicht viel anders als man selbst«, sagte der Zentralratspräsident. Der Dialog mit jungen Menschen sei daher ganz besonders wichtig und erfolgversprechend.
Kampf »Kein Mensch wird als Antisemit geboren«, sagte Schuster, sondern werde im Laufe seines Lebens dazu gemacht. Der Präsident des Zentralrats der Juden betonte, dass es nicht das eine Allheilmittel gegen Antisemitismus gebe. »Wir müssen auf vielen Ebenen und mit vielen Mitteln den Kampf gegen Antisemitismus fortsetzen.« Auch wenn die Herausforderung enorm sei: »Wir dürfen nicht resignieren«, forderte Schuster.
Die gegenwärtige Welle von antisemitischen Vorfällen verdeutlicht, wie tief das Problem in der Gesellschaft verankert ist.
Dass der Kampf gegen Antisemitismus wahrlich eine große Aufgabe ist, die die Gesellschaft gemeinsam angehen muss, unterstrich auch Katharina von Schnurbein. »Leider ist europaweit die Situation ganz ähnlich wie in Deutschland«, sagte die EU-Antisemitismusbeauftragte. Allein 2019 wurden in der EU mehr als 3000 antisemitische Hassverbrechen registriert, die Dunkelziffer wird auf 70 bis 80 Prozent geschätzt. In einer Befragung der EU-Kommission äußerten sich neun von zehn Juden besorgt über den wachsenden Antisemitismus, und selbst 50 Prozent der nichtjüdischen Bevölkerung registrierten einen Anstieg, erläuterte von Schnurbein.
hass Marina Chernivsky waren diese Zahlen sehr wohl bekannt. Ihr Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment unterstützt und berät in Berlin Menschen, die von Antisemitismus betroffen sind. Chernivsky sagte, dass sie in diesen Tagen eine vermehrte Nachfrage nach ihren Angeboten feststelle. »Juden in Deutschland sehen sich aufgrund der Situation im Nahen Osten mit blankem Hass konfrontiert«, sagte Chernivsky. Derzeit zeige sich, wie schnell sich die Lage auch hierzulande entzünden kann. »Der einzelne Jude steht dann stellvertretend für die Lage im Nahen Osten.«
Die gegenwärtige Welle von antisemitischen Vorfällen verdeutlicht aus Chernivskys Sicht, wie tief das Problem in der Gesellschaft verankert ist. »Es darf nicht aus dem Blick geraten, dass nicht nur die Kinder und Jugendlichen Teil des Problems sind, sondern dass die hiesige Gesellschaft Antisemitismus in sich trägt«, sagte sie.
Chernivsky forderte in diesem Zusammenhang, dass der Umgang mit Antisemitismus auch in Institutionen und bei der Ausbildung von wichtigen Akteuren in gesellschaftlichen Schlüsselfunktionen eine größere Rolle spielen müsse – etwa bei der Ausbildung von Polizisten, Lehrkräften und in der Justiz.
»Der einzelne Jude steht dann stellvertretend für die Lage im Nahen Osten.«
Marina Chernivsky
Wie man speziell im Online-Bereich mit Antisemitismus umgehen soll, erklärte Benjamin Fischer. Als Programmdirektor der Alfred Landecker Foundation beschäftigt er sich intensiv mit antisemitischen Umtrieben im Internet und in den sozialen Netzwerken. Die Stiftung hat das Ziel, das Andenken an die Verfolgten und Opfer des Nationalsozialismus zu fördern, über den Holocaust aufzuklären und politisch, rassisch oder religiös Verfolgte zu unterstützen.
»Es ist nicht so einfach, Offline-Strategien in Online-Räume zu übertragen«, sagte Fischer. Dem Kampf gegen Antisemitismus in den sozialen Netzwerken werde in den kommenden Jahren noch mehr Bedeutung zukommen. Gerade aktuell zeige sich, welche mobilisierende Wirkung Falschmeldungen in Verbindung mit antisemitischer Hetze im Netz haben können.
www.alfredlandecker.org;
zwst-kompetenzzentrum.de