March of the Living

Stolz und Trauer

Die jungen Leute legen Holztäfelchen auf das Gleisbett, auf denen steht: »Niemals wieder«. Foto: Eugen Rosenstock

Im Treppenhaus eines Blocks sitzt ein Mädchen an eine Wand gekauert, ihr Gesicht ist rot vom Weinen. Neben ihr sitzt ihre Mutter, sie hat den Arm um sie gelegt und schweigt. Worte des Trostes gibt es nicht, und so ist die Mutter einfach nur da, während ihre Tochter trauert. Das Mädchen hat in der Gedenkstätte im Konzentrationslager Auschwitz I die Berge von Haaren, Brillen, Prothesen und Koffern gesehen. Irgendwo hier liegt auch die Geschichte der Großeltern dieses Mädchens begraben.

In Block 27 durchsuchen Jugendliche das »Buch der Namen«, in dem die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem alle bislang bekannten Namen der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aufgelistet hat – 4,5 Millionen sind das bislang.

Obwohl sie wissen, dass sie die Namen ihrer Großeltern, Tanten, Onkel und anderer Familienmitglieder in den unzähligen Seiten des Buches finden werden, kann man das Entsetzen nicht in Worte fassen, das sich auf den Gesichtern der Jugendlichen widerspiegelt, wenn sie es schwarz auf weiß lesen. Über 11.000 junge Menschen aus aller Welt sind an diesem Tag ins polnische Oswiecim gekommen, um der Opfer der Schoa zu gedenken.

Emotionen Doch diese Art des Gedenkens kennt keineswegs nur die Trauer: Während am frühen Morgen des 16. April die jungen Menschen entsetzt durch die Ausstellung im Stammlager gehen, marschieren sie ein paar Stunden später erhobenen Hauptes singend an den Baracken entlang. »Es ist eine absolut emotionale Achterbahnfahrt«, sagt Michal.

Das Gefühl von Trauer und Stolz wechselt ständig. Denn während in Israel am 27. Nissan, am Jom Haschoa, die Welt für einige Minuten stillsteht, setzen junge Menschen aus aller Welt in Auschwitz ein Zeichen. Sie singen, spielen Gitarre und schwenken die Fahne Israels beim »March of the Living«, drei Kilometer vom Lager Auschwitz I nach Birkenau. Seit 1988 gedenken Menschen beim »Marsch der Lebenden« der Opfer des Holocaust.

Die 18-jährige Michal aus Lübeck läuft in der deutschen Gruppe, daneben sind Jugendliche aus Polen, Ungarn, Frankreich und den USA. Während des Besuchs in der Gedenkstätte am Morgen blieb Michal ruhig und in sich gekehrt, jetzt am Mittag stimmt sie in die Gesänge der Teilnehmer ein, ihre Miene hellt sich auf. »Ich mag die selbstbewusste Atmosphäre«, sagt Michal mit glänzenden Augen. Der Tag sei für sie erfüllend, und sie sei stolz beim »March of the Living« dabei sein zu können.

Auch die beiden Frankfurter Schülerinnen Ester (16) und Celina (17) sind froh, dass sie sich für die Fahrt entschieden haben, die die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) für die Gemeindemitglieder organisiert hat. »Es fühlt sich irgendwie so an, als ob wir alle verwandt wären«, sagt Ester. Das sei anders, als mit der Schulklasse ein KZ zu besuchen. Der ganze Tag sei ziemlich emotional, findet Celina. »Es wäre auch schön, wenn noch mehr nichtjüdische Jugendliche mitmachen würden«, ergänzt Ester.

Zwar lernten sie alle in der Schule viel über den Holocaust, doch sie glauben, dass es für die Mitschüler sicher etwas völlig anderes ist, gemeinsam mit Juden Auschwitz zu besuchen und zumindest ein wenig deren Gefühlslage verstehen zu lernen. Die beiden Mädchen haben bis zur Oberstufe die Lichtigfeld-Schule in Frankfurt besucht, nun sind sie aber jeweils die einzigen Jüdinnen in der Klasse.

Zusammenhalt Neben dem gemeinsamen Gedenken erleben die Jugendlichen an diesem Tag auch das Gefühl des Zusammenhalts von Juden aus aller Welt. Ein Meer aus blau-weißen Flaggen wogt durch das ehemalige Lager, der Magen David und die mit ihm verbundene Hoffnung auf eine Zukunft des Judentums überdecken das schreckliche Grauen, das der Ort ausstrahlt. Statt beklemmender Stille schallen Stimmen und Gesang über die weite Fläche. Die jungen Menschen wollen die Geschichten ihrer Großeltern weiter erzählen, wenn es die Zeitzeugen irgendwann nicht mehr können. »Ich finde es toll, dass ich hier so viele junge Menschen treffen kann, die etwas mit mir gemeinsam haben«, sagt Michal – und: »Wir sind viele.«

Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorstandsvorsitzender der ZWST, ist an diesem Tag ebenfalls nach Auschwitz gekommen, um die Teilnehmer der deutschen Gruppe zu begleiten. Er betont, dass die Jugendlichen diese weltweite Gemeinschaft spüren. »Schließlich ist es das Ziel der Reise, die Jugendlichen zusammenzuführen. Das machen wir schon seit vielen Jahren.« Es müsse aber gelingen, diesen Zusammenhalt ohne größere Eingriffe von außen zu gestalten, die jungen Menschen sollen nicht gezwungen werden, sich mit dem Geschehenen zu identifizieren. »Wir können nur Wissen und ein Verständnis für die eigene Geschichte vermitteln. Was die jungen Leute daraus machen, ist ihre Verantwortung.«

Dass sie Verantwortung übernehmen wollen, dass sie ihre Rolle als Erinnernde ernst nehmen, zeigen Michal und die anderen, die an der Gedenkzeremonie nach dem Marsch teilnehmen. Ein Kinderchor singt auf der Bühne, die direkt auf dem großen Denkmal am Ende des Lagers Birkenau errichtet wurde – dort, wo sich einst die Gaskammern befanden –, das Lied »Was wird aus den Erinnerungen?«.

In einer Zeile heißt es: »Was wird aus den Erinnerungen, werden sie verschwinden wie Staub?« Die Teilnehmer haben diese Frage schon beantwortet: »Niemals wieder« und »Wir werden nie vergessen«, ist auf unzähligen kleinen Holzschildern zu lesen, die sie in das Gleisbett zwischen den Schienen gesteckt haben, über die bis vor 70 Jahren Hunderttausende Menschen nach Birkenau gebracht wurden.

Zeitzeugengespräche Der 18-jährige Benjamin aus München bemüht sich ebenfalls darum, die Erinnerungen an die Schoa aufrechtzuerhalten. »Ich habe in der Schule schon mehrmals vorgeschlagen, dass mein Opa als Zeitzeuge seine Geschichte erzählen könnte.« Er würde sogar mit der Klasse ein KZ besuchen, sagt Benjamin. Ihn ärgert sehr, dass noch kein Lehrer sein Angebot umgesetzt hat. Benjamin weiß, wie anstrengend das Erinnern sein kann, trotzdem versucht er es immer wieder.

Am Abend nach der Zeremonie soll jedoch die ganze Anstrengung einmal abgelegt werden: Die deutsche Gruppe fährt dazu ins altehrwürdige Restaurant Wierzynek mitten in der Krakauer Altstadt. »Für mich ist es immer eine Genugtuung, hier zu sein«, sagt Benjamin Bloch, Direktor der ZWST. Er hebt sein Sektglas zum Toast: »Wo früher die SS-Mannschaften gefeiert haben, feiern heute wir und zeigen, dass es uns noch gibt.« Im Licht der Kronleuchter, an prächtigen Tischen mit bunten Blumen, feiern sie den Abschluss eines Tages, an dem sie bewiesen haben: Mit ihrer Lebendigkeit können sie gegen das Vergessen ankämpfen.

Elena Müller ist Volontärin bei der Frankfurter Rundschau.

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