Prenzlauer Berg App

Stimmen der Überlebenden

Wer die Gegend am Wasserturm im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg besucht, bekommt einen Eindruck davon, woher die Stadt ihren weltoffenen Ruf hat: In den zahlreichen Restaurants und Bars rund um das markante Wahrzeichen pulsiert das Leben; das vielsprachige Stimmengewirr macht eindrücklich deutlich, dass die Gegend nicht nur bei Einheimischen beliebt ist.

Umso schroffer ist der Kontrast, wenn man die Erinnerungen von Simon Mandel hört, der hier in den 30er-Jahren aufwuchs. Er ist mit seiner Mutter und der kleinen Schwester oft im Park am Wasserturm spazieren gegangen. »Eines Tages war es uns nicht mehr erlaubt, dort hinzugehen«, erinnert sich der jüdische Berliner. »Davor stand auf einem Schild – und auch auf jeder Bank –: ›Für Juden und Hunde ist der Zutritt verboten.‹«

kompass Mandels Rückblick ist Teil der App »Jüdische Geschichte(n) in Prenzlauer Berg«, einem Audiorundgang, der an 19 Hörstationen quer durch den Stadtteil führt. Konzipiert und produziert wurde das Projekt vom Arbeitskreis Historisch-politische Bildung (AK HipoBil) des Museums Pankow.

Die App sei Ergebnis der Frage, wie digitale Medien in der Bildungsarbeit eingesetzt werden könnten, sagt Benjamin Steinitz von HipoBil: »Uns überzeugte die Idee, mit dieser Technik an einem Ort zu sein und Geschichte vermittelt zu bekommen, die in das heute sichtbare Umfeld integriert wird.«

Als Kompass für den Audiorundgang dienten die Biografien früherer jüdischer Bewohner, die in den 20er- und 30er-Jahren in Prenzlauer Berg lebten. Grundlage dafür waren Interviews, die die Macher der App im Archiv des Museums Pankow fanden, »auf Kassetten, die wir mit uralten Walkmans abgehört haben«, erklärt Claudia Schlaier von HipoBil.

zeitzeugen Auszüge jener Interviews wurden dann von Schauspielern neu eingesprochen und in die Hörstationen integriert. Die App mit dem Rundgang kann man im Google Playstore kostenlos herunterladen.

Schaltet man die GPS-Funktion seines Smartphones oder Tablets ein und öffnet die Anwendung, dann starten die einzelnen Hörstationen automatisch, wenn man sich in der Nähe des entsprechenden Ortes befindet – wie etwa des Wasserturms.

Doch auch Menschen, die kein Android-basiertes Gerät besitzen, können den Audiorundgang mit einem anderen Smartphone oder ihrem MP3-Player machen: Auf der Internetseite von HipoBil lassen sich die einzelnen Hörstationen als Audios herunterladen, ebenso wie eine Karte, die zu ihnen führt.

Eine vorbestimmte Dramaturgie gibt es dabei nicht: Die Stationen lassen sich individuell entdecken. »Wir haben sehr darauf geachtet, dass es keine feste Reihenfolge gibt«, betont Benjamin Steinitz. Jeder solle den Rundgang dort anfangen, wo er wolle.

Vielfalt In der App mischen sich auf diese Weise die ganz persönlichen Rückblicke von Zeitzeugen wie Leonore Samuel, Walter Frankenstein oder eben Simon Mandel mit generellen Informationen zum jüdischen Leben bis 1945. Ebenjenes Leben zeigte sich damals äußerst vielfältig: Von Anfang an gab es in Prenzlauer Berg eine jüdische Bevölkerung, die durch Zuwanderung nach den Pogromen in Russland um die Jahrhundertwende noch einmal deutlich gewachsen war.

Ende der 20er-Jahre lebten daher etwa 20.000 Juden im Bezirk, was einem Anteil von 6,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach.

Bereits 1827 war der jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee errichtet worden – damals noch vor den Toren Berlins. Hinzu kamen jüdische Waisenhäuser, Altenheime und Synagogen. Religiös bot der Stadtteil ein Nebeneinander von orthodoxen und liberalen Strömungen.

spuren Nicht minder vielfältig waren die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten: Während wohlhabende Familien in den prächtigen Vorderhäusern residierten, teilten sich arme jüdische Familien nicht selten ein einziges Zimmer in den Hinterhäusern.

»Unser Zimmer war neben der Küche«, erinnert sich Leonore Samuel in einer der Audiostationen an das Leben mit ihren Eltern und ihrem Bruder. »Wir hatten dort zwei Betten und eine Frisierkommode, einen Kleiderschrank, ein Buffet, einen Tisch, vier Stühle und ein Sofa – wir konnten uns kaum rühren.« Sie habe sich mit ihrer Mutter ein Bett geteilt, während Vater und Bruder im zweiten Bett schliefen.

Es sind persönliche Erinnerungen wie diese, die ein anschauliches Bild der damaligen Zeit zeichnen und den Brückenschlag ins Heute schaffen. Denn fernab von Einrichtungen wie der Synagoge in der Rykestraße, dem »Judengang« am Kollwitzplatz und dem Jüdischen Friedhof sind heute nur noch wenige Spuren jüdischen Lebens in diesem Kiez vorhanden.

Fokus Erst durch die Stimmen im Ohr, die vom Alltag in der jüdischen Schule, auf dem Markt oder beim Fußballspielen auf der Straße berichten, werden sie zumindest akustisch nachvollziehbar.

»Wir wollten mit der App jüdisches Leben vor der Schoa sichtbar machen«, erklärt Claudia Schlaier. Der Fokus auf die 20er- und 30er-Jahre bedeute indes automatisch, dass auch der steigende Verfolgungsdruck thematisiert worden sei.

So finden sich in den erzählten Geschichten Erinnerungen an Demütigungen, an die zunehmend judenfeindliche Atmosphäre, an Gespräche über Auswanderung und Versuche, die Situation zu verharmlosen.

lücken Zwischen 1933 und 1939 halbierte sich die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Prenzlauer Berg, bis schließlich der Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten das jüdische Leben fast vollständig auslöschte. Die App soll in diesem Sinne auch daran erinnern, dass es ein reiches jüdisches Leben in diesem Bezirk gab, das so heute nicht mehr existiert.

Gerade bei Besuchen in Schulklassen stellt Claudia Schlaier oftmals große Wissenslücken fest. Gleichzeitig sollten durch die Konzentration auf Biografien statt auf Institutionen ebenjene Lebensgeschichten dem Vergessen entrissen und Hörern zugänglich gemacht werden.

Eine bestimmte Zielgruppe hat der Audio-Rundgang dabei nicht – die App richtet sich an Jugendliche wie Ältere, an Einheimische wie Touristen. Letztere werden seit Kurzem noch einmal besonders angesprochen – »Jüdische Geschichte(n) in Prenzlauer Berg« gibt es ab dem Frühjahr auch in einer englischen Version.

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