Regenwolken bedecken den Himmel. Das Wasser verleiht dem Roncalliplatz im Süden des Kölner Doms einen leichten Glanz. Er ist nahezu menschenleer. Unter dem Vordach der angrenzenden Philharmonie allerdings warten einige Dutzend Menschen. Sie wollen um 11 Uhr ebenso wie andere Kölner im gesamten Stadtgebiet ihren Alltag zwei Minuten lang unterbrechen und sich an einer Aktion von Yael Bartana beteiligen. Die israelische Multimediakünstlerin hatte für den vergangenen Freitag den »Zwei Minuten Stillstand« angeregt – als »Aufforderung, die Gegenwart zu verändern«. Bartana will eine Debatte anstoßen, »wie aktives Erinnern aussehen sollte«.
Vorbild dieser Aktion ist Jom Haschoa, der Tag, an dem in Israel der Opfer und Widerstandskämpfer der Schoa gedacht wird. Und weil in Israel an Jom Haschoa zwei Minuten lang Sirenen den öffentlichen Raum beschallen, nehmen unter dem Vordach auch 20 Blechbläser Aufstellung und warten ebenfalls bis 11 Uhr.
Das einsetzende Sirenenimitat ist eindrucksvoll. Zwei Minuten lang intoniert die eigens für diese Aktion zusammengebrachte Trompeter- und Posaunistengruppe einen beunruhigend flackernden Ton, jedoch naturgemäß in seiner Reichweite beschränkt. Ursprünglich planten die Veranstalter einen in der ganzen Stadt hörbaren Alarm, erzählt einer der Musiker. Das Ordnungsamt habe dies aber nicht gestattet.
reaktion Bartana sieht den Holocaust »als Anfang einer langfristigen globalen Kettenreaktion«, deren Konsequenzen »von der Gründung des Staates Israel, Flucht und Vertreibung in Europa und im Nahen Osten bis hin zu den NSU-Morden« reichen würden. Sie fordert deshalb eine »breite Debatte, wie aktives Erinnern heute und zukünftig aussehen soll«.
»Zwei Minuten Stillstand«, so der programmatische Name der »kollektiven Performance«, findet aus diesem Grund an verschiedenen Orten der Stadt statt, abseits dieser Hauptveranstaltung auch in der Keupstraße im Stadtteil Mülheim, die 2004 durch das von der Naziterrortruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« verübte Nagelbombenattentat überregional bekannt wurde.
Die Debatte beginnt bereits auf dem Roncalliplatz. Zwischen die Stillstehenden haben sich Kritiker gemischt, teils gehüllt in die Flagge des Staates Israel. Sie empören sich über »die Instrumentalisierung des wichtigsten israelischen Gedenktages für die Opfer der Schoa«. Er werde »gegen den Staat Israel« gekehrt.
Belegt sehen sie das unter anderem in dem von den Initiatoren einbezogenen Gedenken an »die palästinensische Nakba«, der »angeblichen Vertreibung der Palästinenser aus Israel«. Die Absicht hinter dieser Veranstaltung sei jedenfalls nicht ein Gedenken an die Opfer des Holocaust, wirft eine Anwesende Yael Bartana während einer hitzigen Debatte unter den Teilnehmern vor. Auch sei, so die Kritik, die Synagogen-Gemeinde Köln nicht ausreichend einbezogen worden. Und entgegen einer Aussage der Stadt biete ein Holocaustgedenken eben nicht die »großartige Gelegenheit eines Gemeinschaftserlebnisses«, ergänzt ein Mann.
Diskussion Auf die meisten Kommentare reagiert Yael Bartana nicht selbst, sondern ihre Mitarbeiterin Galit Eilat, die inoffizielle »Spokeswoman« der Künstlerin. Doch auf deren Versuche, die Diskussion aus dem Regen an die trockene Philharmonie zu verlegen, reagieren die beschirmten Kontrahenten nicht. Unverdrossen kommt Eilat zur Sache: »Der Holocaust gehört niemandem. Weder der Synagoge noch einer Stadt oder einem Staat.« Er sei eine Erfahrung, eine Erinnerung, die man teilen solle, erklärt die Sprecherin mit triefendem Haar. »Wenn Sie sich hieran nicht beteiligen wollen, bitte. Das entscheiden Sie!«
Die Kölner Synagogen-Gemeinde hat eine Beteiligung an den Schweigeminuten grundsätzlich abgelehnt. Der kausale Zusammenhang, in den Yael Bartana die Schoa mit der Besetzung der Gebiete in Israel rücke, sei nicht nachvollziehbar, kommentiert das Vorstandsmitglied der Gemeinde, Abraham Lehrer, die Aktion. »Wir lehnen ab, dass die Schoa für die Besetzung der Gebiete in Israel verantwortlich sein soll.«
Andere Kölner beteiligen sich jedoch an der Aktion. Neben Teilen der Stadtverwaltung, der Universität und einigen Schulen unterstützt auch der 1.FC Köln Bartanas die »kollektive Performance«. Die »Lizenzspieler-Mannschaft« der Geißböcke unterbricht um 11 Uhr ihr Training, »um so der Opfer des Holocaust zu gedenken«. FC-Präsident Werner Spinner sieht den Verein grundsätzlich zwar lieber »politisch neutral«, wolle in diesem Fall aber Flagge zeigen »gegen das Verdrängen des dunkelsten Kapitels unserer Geschichte und zugleich für ein friedliches Zusammenleben in der Gegenwart«.
ÜberlEgungen Damit es nicht nur friedlich, sondern auch sicher abläuft, halten die Kölner Verkehrsbetriebe ihre Fahrzeuge entgegen einer früheren Überlegung nicht an. Die Verantwortlichen hätten eine Unterbrechungen des Schienenverkehrs als zu riskant beurteilt, teilt der Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) den Journalisten mit, vor allem wegen der geringen Vorbereitungszeit. Auch er selbst habe erst vor wenigen Wochen von Yael Bartanas Projekt gehört.
An ihrem Konzept gefalle ihm besonders die Eigeninitiative der Mitwirkenden. »Entscheidend ist, dass es nicht von oben angeordnet wird, sondern aus dem eigenen Willen der Bürgerinnen und Bürger kommt«, sagt Roters der Jüdischen Allgemeinen. Ob es nächstes Jahr erneut »Stillstand« geben werde, hänge aber von der Künstlerin ab.
Bartana lässt eine Frage danach offen. Obschon sie Köln wegen der weit zurückreichenden jüdischen Geschichte als geeignet empfindet. Vielleicht aber, ergänzt sie, könne man »Zwei Minuten Stillstand« auch einmal in Berlin realisieren. Konkrete Pläne gebe es derzeit aber nicht.