Zahnbürsten, Kämme, Eheringe – könnten diese Gegenstände sprechen, was würden sie dem Betrachter wohl erzählen? Sorgfältig aneinandergereiht liegen sie in Glasvitrinen, ganz unscheinbar kommen sie daher. Eine zerbrochene Tasse hier, ein provisorischer Schuh aus Reifenresten dort, und dann eine Kiste voller Knöpfe. Es sind die Überreste einer grausamen Zeit.
Lena Sommerfeld hat sich mit den archäologischen Fundstücken detailliert auseinandergesetzt. Gemeinsam mit ihren Kollegen Juliane Haubold-Stolle und Thomas Kersting hat die 28-Jährige eine Sonderausstellung dazu konzipiert. Ausgeschlossen. Archäologie der NS-Zwangslager heißt sie und kann seit diesem Frühjahr im Dokumentationszentrum der NS-Zwangsarbeit im Berliner Stadtteil Schöneweide besichtigt werden.
Mehr als 300 Funde aus 20 Lagern in Berlin und Brandenburg sind für die Schau zusammengetragen worden. »Jedes Objekt erzählt seine eigene Geschichte, nicht jede können wir hundertprozentig rekonstruieren«, sagt die Kuratorin. »Doch wir haben so viele Informationen wie eben möglich zusammengetragen.«
SCHICKSALE Die Objekte stammen größtenteils aus den Depots der Denkmalämter der Länder Berlin und Brandenburg. Aber nicht nur. 2019 fand ein internationales Sommercamp statt, in dem Jugendliche unter fachlicher Anleitung in einem Wald bei Treuenbrietzen südwestlich von Berlin nach Relikten aus der Vergangenheit gruben. Die Ergebnisse ihrer Suche sind ebenfalls in die Ausstellung mit eingeflossen.
Solche didaktischen Projekte seien sehr wichtig, sagt Lena Sommerfeld. Sich konkret mit den Lagern auseinanderzusetzen, mit den eigenen Händen Gegenstände auszugraben, diese zu säubern, zu inventarisieren und auszuwerten, machten die Geschichte und die individuellen Schicksale erst richtig begreifbar.
Die Bewohner der umliegenden Wohnhäuser konnten direkt auf das Lagergelände schauen.
Schätzungen des United States Holocaust Memorial Museum zufolge existierten zwischen 1933 bis 1945 über 44.000 nationalsozialistische Zwangslager und Haftstätten im Deutschen Reich und in den besetzen Gebieten. Wobei der Terminus »Zwangslager« heute als Oberbegriff für die unterschiedlichen Lagerformen verstanden wird – er beinhaltet Konzentrationslager genauso wie Zwangsarbeitslager oder Vernichtungslager.
Trotz der enormen Anzahl sind die meisten von ihnen in Vergessenheit geraten: Einige sind überbaut worden, andere von Wald überwachsen.
Etwa 4000 gab es allein in Berlin und Brandenburg. »Die Zwangslager gehörten zum öffentlichen Bild«, sagt Lena Sommerfeld.
Teilweise wurden sie mitten in einem Wohngebiet errichtet – wie im Falle des sogenannten GBI-Lagers Nr. 75/76 in Berlin-Schöneweide, in dem sich seit 2006 das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit befindet. Ein etwa drei Hektar großes Waldstück wurde für die Errichtung der steinernen Baracken gerodet. Die Bewohner der umliegenden Wohnhäuser konnten aus ihren Fenstern direkt auf das Lagergelände schauen.
AUFARBEITUNG Die eingeschossigen Häuser sind bis heute gut erhalten geblieben. Sie stehen an einer viel befahrenen Straße zwischen hochgewachsenen Kiefern. Sieben von den insgesamt 13 Baracken werden gegenwärtig vom Dokumentationszentrum für die Geschichtsaufarbeitung genutzt.
Etwa 4000 Zwangslager gab es allein in Berlin und Brandenburg.
In den restlichen Gebäuden befinden sich unter anderem eine Kfz-Werkstatt, eine Kita, eine Praxis für Physiotherapie sowie eine Gaststätte mit einer Kegelbahn.
Dass Menschen die Geschichte des Ortes so ausblenden können, verwundert Lena Sommerfeld. »Aber so ist es«, sagt sie. Umso mehr freut es sie, wenn die Inhaber Interesse am Dokumentationszentrum zeigen und vorbeikommen. »Auch das passiert.«
ÖFFENTLICHKEIT In den 80er-Jahren rückte die Geschichte der Zwangsarbeiter vermehrt in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit. Lokale Geschichtswerkstätten und Bürgerinitiativen entdeckten regionale Spuren und machten so auf die vielen Schicksale aufmerksam. Trotzdem dauerte es noch viele Jahre bis zu einer Entschädigungsregelung für die Millionen Opfer.
Das Thema Entschädigung spielt bei der Sonderausstellung Ausgeschlossen allerdings nur am Rande eine Rolle. Der Fokus liegt vielmehr auf der Rekonstruktion des Alltags. Was für Geschirr benutzten die Inhaftierten? Warum legten sie so viel Wert darauf, sich einen Kamm aus Produktionsresten herzustellen? Welche Geschichte steckt hinter den gefundenen Hausschlüsseln und Schmuckperlen?
In sieben Kapiteln begibt sich das Kuratorenteam auf die Suche nach Antworten, stellt die Funde in einen größeren Kontext und vergleicht sie miteinander, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Lagerleben herauszuarbeiten.
»Die Menschen haben oftmals versucht, sich etwas Schönes zu bewahren«, sagt Lena Sommerfeld. Selbst gemachte Ringe, ein Herz-Anhänger aus Holz oder weihnachtlicher Christbaumschmuck zeugen davon. Aber auch Gewalt lasse sich von den Objekten ableiten: »Hier haben wir einen Schlagstock und Gasmaskengewinde«, sagt die Kuratorin und zeigt auf eine Vitrine.
VERSTRICKUNG Im fünften Kapitel widmet sich die Ausstellung der Verstrickung der deutschen Gesellschaft in das Lagersystem. »Viele Dinge, die an ehemaligen Lagerstandorten geborgen werden, verweisen auf diejenigen, die von der Zwangsarbeit profitierten«, heißt es auf einer Infotafel.
Zwangsarbeit war ein lukratives Geschäft für die beteiligten Firmen.
Zunächst seien die Unternehmen zu nennen, die die Zwangsarbeiter einsetzten. »Aber auch diejenigen, die Lager planten, bauten und belieferten, profitierten davon. Die Ausstattung mit Betten und Geschirr, mit Zu- und Abwasserrohren, die Verwaltung und Vermietung der Lager – all das war ein lukratives Geschäft«, ist dort weiter zu lesen.
Lena Sommerfeld zeigt auf ein Teil eines Wasserleitungsrohres. »Hier ist noch deutlich der Name der Firma zu lesen – ›Gerhard Dorn, Frechen bei Köln‹«, liest sie laut vor.
Kriegsgefangene, zivile Zwangsarbeiter, verschleppte Männer, Frauen und Kinder – die Anzahl der Inhaftierten und das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, ist unermesslich. Das ist ein Gedanke, der einem nach dem Ausstellungsbesuch wieder ins Bewusstsein kommt.
Genau das sei auch das Ziel, meint Lena Sommerfeld: Auch 75 Jahre nach Kriegsende müsse das Vergangene sichtbar gemacht werden, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.