Michael Kashi hat am Montagabend im Stuttgarter Rathaus die Otto-Hirsch-Auszeichnung erhalten. Die Bürgermeisterin für Jugend und Bildung, Isabel Fezer, überreichte die Ehrung gemeinsam mit Barbara Traub, Vorstandsvorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), in Form einer Skulptur. Gewürdigt wurde Michael Kashi für seine »bleibenden Verdienste als Wegbereiter des Dialogs wie auch der Öffnung der jüdischen Gemeinde in die Stuttgarter Stadtgesellschaft sowie in die Zweigstellengemeinden durch die Schaffung dezentraler Strukturen in Württemberg«, so das Kuratorium der Otto-Hirsch-Auszeichnung.
»Es war Zeit, dich mit dieser Würdigung aus der zweiten Reihe zu holen«, sagte Barbara Traub. Der Beifall der Gäste im voll besetzten Großen Sitzungssaal im Rathaus Stuttgart bestätigte Traubs Kommentar. Mit der Otto-Hirsch-Auszeichnung werden Persönlichkeiten, Gruppen oder Initiativen geehrt, die sich in besonderer Weise um die interreligiöse Zusammenarbeit vor allem zwischen Christen und Juden verdient gemacht haben.
Die Stadt Stuttgart, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die IRGW verleihen gemeinsam die Auszeichnung seit 1985. Sie erinnert an den 1885 geborenen Stuttgarter Otto Hirsch, der als Ministerialdirigent von den Nationalsozialisten bereits 1933 aus dem Staatsdienst entlassen wurde, weil er Jude war. Als Geschäftsführender Vorsitzender der Reichsvertretung der Deutschen Juden setzte sich Otto Hirsch unter schwierigsten Bedingungen für verfolgte Juden ein. Mit seiner Hilfe konnten Zehntausende Juden nach 1933 durch Auswanderung gerettet werden. Otto Hirsch selbst wurde dreimal verhaftet und am 19. Juni 1941 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet.
ansporn Er sei, sagte Michael Kashi nach der Ehrung, »zutiefst gerührt«, und er versprach, die Auszeichnung als Ansporn zu nehmen, seinen Weg weiterzugehen und Neuankömmlingen eine neue Heimat zu geben. In einem berührenden Vortrag, begleitet von Fotos, die auf die Leinwand projiziert wurden, erzählte Kashi seine Lebensgeschichte und wie er lernte, dass Dialog und nicht Hass die alleinige Lösung von politischen und zwischenmenschlichen Problemen ist. »Ich habe das große Glück, dass ich nicht nur angekommen bin, sondern eine Heimat gefunden habe«, versicherte Kashi. Dieses Glück wolle er mit seiner Arbeit auch anderen ermöglichen.
Mit der Öffnung der Gemeinde in Stuttgart und einem auf Dauer angelegten Dialog mit und in die Stadtgesellschaft hinein, woran Kashi wesentlich beteiligt war, verbinden sich Initiativen der Wissensvermittlung über das Judentum, Institutionen wie das Haus Abraham, das Forum Jüdischer Bildung und Kultur, das Landesforum der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Baden-Württemberg, Veranstaltungen wie die Jüdischen Kulturwochen und das öffentliche Entzünden der Chanukkalichter auf dem Stuttgarter Schlossplatz.
Staatsgründung Geboren wurde Michael Kashi 1948 in Tel Aviv als eines der ersten Kinder nach der Staatsgründung Israels. Als ägyptische Bomben auf Tel Aviv fielen, zog die Familie nach Jaffa. Die Hälfte der Bevölkerung war arabisch, der Islam dem kleinen Michael nicht fremd. »Unser liebstes Kinderspiel war Krieg zwischen Juden und Arabern«, erzählt Kashi. Das Spiel endete meist in der Diskussion, wer denn nun Sieger sei. »Und irgendwann war uns das zu doof, wir spielten nicht mehr Krieg«, so Kashi.
»Irgendwann war uns
das zu doof,
wir spielten nicht mehr Krieg.« Michael Kashi
Leider hätten es die Erwachsenen nicht geschafft, die Weichen so zu stellen, dass Krieg nicht mehr nötig sei. Michael Kashi erinnert sich sehr intensiv, wie seelisch und körperlich gebrochene Überlebende der Schoa als Milchmann, Eisverkäufer, Lehrer, Kindergärtnerin, Arzt in Israel einen Neubeginn wagten. Er erinnert sich an Wutausbrüche, Verzweiflung, Depression und Schweigen. Und er erinnert sich an Not. »Es gab nichts, und wir lernten, mit nichts zu leben«, erzählt der 70-Jährige.
Stolz Doch es gab auch das Bewusstsein, ein neues, ein stolzes Volk sein zu wollen. Als Fallschirmspringer diente er im Sechstagekrieg. »Es war eine neue Dimension von Terror«, sagt Kashi. Alle Juden sollten ins Meer getrieben werden, bis der Staat Israel ausgelöscht sein würde. »In der Armee lernten wir Teamarbeit, es hieß, wenn ihr nicht zueinander haltet, werdet ihr nebeneinander hängen.« Und wieder drängte sich der Dialoggedanke auf.
Ein erster Besuch in Deutschland bei Verwandten war für ihn überwältigend. »Kein Terror, keine Angst, die Freiheit, die Grenzen zum Nachbarland überschreiten zu können, das gab es in Israel nie«, beschreibt Kashi seine Gefühle. Und er blieb nach weiteren Besuchen, heiratete, wurde Mitglied der IRGW, auch wenn die ersten Jahre dort »eher trostlos waren«. Junge Leute verließen Deutschland, und er stellte die Prognose, dass es die IRGW in zehn Jahren nicht mehr geben würde.
Dass er sich irren sollte, lag an der Einwanderung von Juden aus den Ländern der ehemaligen UdSSR, aber auch an ihm. Er engagierte sich innerhalb und außerhalb der Gemeinde, wurde zum Brückenbauer zwischen Christen, Muslimen und Juden und fand als später Nachfahre der ewig heimatlosen Mutter- und Vaterfamilie, die aus Persien und Spanien mehrfach vertrieben worden war, Heimat ausgerechnet in Deutschland.
Tora Wie stark Michael Kashi mit Stuttgart verbunden ist, zeigte eine beispielhafte Aktion im vergangenen Jahr. Seine Idee, die Stuttgarter Stadtgesellschaft um Spenden für eine neue Torarolle zu bitten, war auch nach Meinung von Bürgermeisterin Isabel Fezer »ein echtes Ding«. https://www.juedische-allgemeine.de/gemeinden/rundum-solidarisch/ Kashi holte den Stuttgarter Bürgermeister Martin Schairer mit an Bord, und der Erfolg war überwältigend: Im Nu waren 50.000 Euro gesammelt.
Im Großen Rathaussaal wurden die letzten Buchstaben der Torarolle geschrieben und diese mit einem feierlichen Umzug in die Synagoge eingebracht. Auf der Leinwand war auch zu sehen: Michael Kashis würdevoll glückliches Gesicht. Mit der neuen Torarolle ist Michael Kashis Zuhausesein in Deutschland endgültig besiegelt worden.